«Die Schweiz ist fast ein bisschen langweilig-immerschön»
Olivier, wie bist du selber eigentlich zum Pilgern gekommen?
Ich war Fernseh-Journalist beim RTS und habe im Wallis eine Reportage gemacht über eine Klinik für Drogenabhängige. Dort gab es auf jeder Therapiestufe die Verpflichtung, eine besondere Lebenserfahrung zu machen. Und am Ende, nach vier Jahren, mussten die zu Therapierenden zu Fuss von Sitten nach Santiago de Compostela gehen. Da habe ich zum ersten Mal vom Jakobsweg gehört.
Und bist dann selber losmarschiert?
Nicht direkt. Damals war ich 31 und hatte kleine Kinder. Aber ich habe mir selber geschworen: Wenn ich 50 bin mache ich das auch. Aber als ich 50 wurde, wollte mich mein Boss beim RTS nicht gehen lassen. Ich war damals verantwortlich für die Tagesschau, und wir hatten wirklich viel zu tun. Also habe ich das Ganze um ein Jahr verschoben. Dann mit 51 ging dasselbe Spiel von vorne los: «Nein, du kannst jetzt nicht weg», sagte mein Chef. Erst als ich kündigen wollte, ergab sich eine Lösung. Und ich bin von Le Puy en Velais nach Santiago gelaufen.
Aber das war dann wie bei vielen anderen Pilgern bloss der Anfang ...
Ja, anschliessend musste ich von Rorschach durch die Schweiz nach Le Puy gehen, dann nach Rom, dann nach Assisi usw. Ich habe also immer am Ankunftsort beschlossen, welche Strecke ich als nächste in Angriff nehme.
Rom, Assisi, das klingt sehr katholisch?
Ja, ich habe eine strenge katholische Erziehung genossen. U.a. bin ich im Kollegium des Klosters St. Maurice im Wallis zur Schule gegangen. Aber später hatte ich mich sehr weit vom Katholizismus entfernt. Erst beim Pilgern habe ich mich der Seite wieder angenähert: Auf den Pilgerwegen folgt ja eine Kirche der anderen – und ich bin auch hineingegangen. Aber mein spirituelles Innenleben ist etwas sehr Privates. Und ob die Leute, die ich auf den Pilgerwegen treffe, glauben oder nicht, das ist mir völlig egal.
Was ist deine Lieblingsstrecke?
Der Schweizer Jakobsweg ist unglaublich schön! Gut erschlossen, bequem zu gehen, super ruhig, und die abwechslungsreichen Landschaften voller Harmonie. Aber ich mag alle Pilgerstrecken. Zum Beispiel auch die Voie d'Arles bis Santiago. Was ich sehr mag: Streckenabschnitte durch hässliche Vorstädte und Industriegebiete und plötzlich wird es sehr schön. Dieser Wouw-Effekt, wenn einem fast die Augen überquellen, das ist grossartig. Die Schweiz ist da fast ein bisschen langweilig-immerschön.
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Olivier Cajeux (65) war Bundeshaus-Korrespondent und Redakteur beim Westschweizer Fernsehen RTS. Der Pensionär ist aktiv im Vorstand der Freunde des Jakobsweges und der Via Francigena. Das erste Schweizer Pilgerforum von 14. bis 16. März 2025 in Fribourg ist auf seine Initiative hin entstanden. Der Organisator präsentierte am Forum seinen neuen Dok-Film «Via Jacobi 23, der grosse Marsch» über eine 21-tägige Pilgertour vom Bodensee nach Genf mit rund 1000 Leuten. Dieser soll bald auch auf Youtube zu sehen sein.
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Das Netz der Zubringerwege zum Hauptweg nach Santiago in der Schweiz ist inzwischen riesig. Wo gefällt es dir da?
Im Appenzellerland, auf der Strecke von Rorschach nach Rapperswil. Auch das Stück von Brunnen über den Brünig nach Brienz. Oder die Luzerner Variante: Luzern–Willisau–Burgdorf–Gümligen. Nicht so spektakulär wie Eiger, Mönch und Jungfrau, dafür einfach, gemütlich und harmonisch. Als Abschlussprojekt meiner Pilgerbegleiter-Ausbildung bin ich mit einer Gruppe von Münster (bei Disentis im Vorderrheintal) bis Münster (im Oberwallis) gegangen.
Nun hast du also das erste Schweizerische Pilger-Forum organisiert. Wie kam es dazu?
Ich bin angefragt worden, ob ich die Generalversammlung der Freunde des Jakobsweges organisieren will. Aber bei solchen GV-Events hat mir immer etwas gefehlt; Aktivitäten, Animationen, Ermunterungen, um sich auf den Weg zu machen. Also habe ich gesagt: Ok, ich mache das, aber als Forum. Solche Foren habe ich in Frankreich erlebt, auch in Hamburg gibt es ja ein grosses Pilgerforum. Das macht für mich Sinn, denn am Ende kümmern sich alle Organisationen um das Gleiche: Pilgerangebote von Pilgern, mit Pilgern, für Pilger.
In der Schweiz existiert ein riesiges Netzwerk an ganz verschiedenen, thematischen Pilgerwegen. MĂĽssen sich die Akteure besser vernetzen?
Ja, unbedingt, aber das ging alles sehr einfach. Ich bin in zwei Vorständen. Bei den Freunden des Jakobswegs und der Via Francigena (Frankenweg). Die zu vernetzen war schon mal einfach. Dann kenne ich Leute von der Via Francisca und die haben auch sofort gesagt: Ja, super, wir sind für ein solches Forum. Alle, die ich angefragt habe, haben sofort zugesagt.
Du konntest Alt-Bundesrat Joseph Deiss als Eröffnungsredner verpflichten. Er nutzt das Pilgern zur Reflexion. Was ist für dich der wichtigste Aspekt des Pilgerns?
Sich selbst zu sein. Ohne Funktion, ohne Maske, ohne Rolle. Wenn du allein gehst, bist du einfach nur du – das ist das, was mir gefällt. Ob ich im Wald schlafe oder im Hotel, spielt dann keine Rolle. Und allein unterwegs ist man auch immer offen genug, um Leute zu treffen und sich auf sie einzulassen. Manchmal gehe ich aber auch mit meiner Frau. Aber am liebsten gehe ich allein. Da halte ich es mit dem französischen Natur-Philosophen Pierre Rabis, der sagte: Man muss seine eigene «Cadence» finden ...
... den Schritttakt, Rhythmus
Ja, wenn ich mein Schritttempo gefunden habe, dann ist das wie eine Musik, eine Melodie fĂĽr alle Organe: Das Hirn, die Gliedmassen, das Blut.
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«Die Schweiz ist fast ein bisschen langweilig-immerschön»