«Die Sucht ist nur ein Teil der Person, aber sie ist nicht alles»
Valentin Beck kümmert sich um jene, um die die meisten einen grossen Bogen machen: die Suchtkranken. «Vielen ist nicht bewusst, dass es auch bei uns in der Schweiz Menschen gibt, die am Rande der Gesellschaft leben», sagt er, während er über den Kasernenplatz in Luzern geht. Ein junger Mann, der verwahrlost wirkt, winkt ihm zu, Beck winkt zurück.
Als Gassenseelsorger ist er Ansprechperson für Frauen und Männer, die beim Verein Kirchliche Gassenarbeit Luzern registriert sind. «Damit die Menschen von der Gasse nicht auf der Strasse stehen», lautet der Slogan der Organisation. Die Mitarbeitenden kümmern sich um sucht- und armutsbetroffene Menschen aus der gesamten Zentralschweiz. Dabei umfasst das Angebot medizinische Grundversorgung, gesunde Ernährung und individuelle Hilfe, um das Leben zu bewältigen.
Keine Entzugsklinik
Oft ist Valentin Beck in der Gassechuchi anzutreffen. Dort kümmert er sich um die Seelen der Menschen. Er ist ja auch Seelsorger. «Wie geht’s dir heute?», fragt er eine 50-jährige Frau, die sich in der Gassechuchi eine warme Mahlzeit holt. «In der Kontakt- und Anlaufstelle bieten wir auch Raum für den Konsum von mitgebrachten Drogen, damit diese unter hygienischen und stressfreien Bedingungen konsumiert werden können», sagt Beck. «Ziel ist es, den Gesundheitszustand von sucht- und armutsbetroffenen Menschen zu verbessern oder zumindest zu stabilisieren und Infektionskrankheiten vorzubeugen.»
Nur ein kleiner Anteil der schwer Suchtkranken schaffe den Absprung von den Drogen, sagt Beck. Und er stellt klar: «Die Gassechuchi ist keine Therapie- oder Entzugsklinik. Unser geschützter Raum leistet einen wesentlichen Beitrag zur Entlastung der Öffentlichkeit vor den negativen Auswirkungen des illegalen Drogenkonsums.»
Ich habe mich schon immer für Menschen interessiert, die nicht ins perfekte Bild unserer Gesellschaft passen.
Dankbar für Fügung
Der 41-Jährige ist über Umwege zur Gassenarbeit gekommen. Nach seinem Studium für Theologie und Pfarreiseelsorge arbeitete er in der Psychiatrieseelsorge. Dort hatte er oft mit suchtkranken Menschen zu tun. «Ich habe mich schon immer für Menschen interessiert, die nicht ins perfekte Bild unserer Gesellschaft passen», erzählt er und erinnert sich an einen suchtkranken Mann aus seinem Heimatdorf, mit dem er sich schon als junger Mann gerne unterhielt. Als vor vier Jahren ein neuer Gassenseelsorger in Luzern gesucht wurde, wurde er von einem Freund darauf aufmerksam gemacht. «Ich selbst wäre wohl gar nicht auf die Idee gekommen, aber heute bin ich dankbar für diese Fügung.»
Auch wenn seine Arbeit viele schwere und schwierige Umstände hat, so erlebt er doch immer wieder schöne und lustige Situationen. «Es wird oft gelacht.» Zurzeit sind etwa 1000 Frauen und Männer beim Verein registriert. Manche davon begleitet er regelmässig, einige kennt er gar nicht oder sieht sie nur sporadisch. «Ich bin da, wenn ich gebraucht werde, oft höre ich einfach nur zu. Ohne zu urteilen.» Beck ist bewusst, dass er die Welt nicht retten kann. Wichtig ist ihm, dass er seine Klienten als Menschen sieht und mit Würde behandelt. «Die Sucht ist nur ein Teil der Person und Lebensgeschichte, aber sie ist nicht alles.»
Tod ist allgegenwärtig
Der Tod begleitet ihn bei seiner Arbeit. In den letzten vier Jahren musste er 75 Frauen und Männer verabschieden. Im Schnitt waren sie nur knapp über 50 Jahre alt. «Sie wachsen mir ans Herz, und natürlich bin ich traurig, wenn jemand stirbt», sagt Valentin Beck. Aber das gehöre zu seinem Job. Die Abdankungsfeiern sieht er als wichtigen Bestandteil. Ein Aussenstehender wäre wohl verwundert. «Manchmal macht einer Lärm, ein anderer läuft mit der Bierdose in der Hand rum.» Das klinge absurd, aber trotzdem seien es würdige Abschiede. «Sehr echt, halt ungefiltert», so Beck.
Zu einem würdigen Leben gehört nicht nur eine würdige Beerdigung sondern auch in Würde, alt werden zu können.
Wie wichtig ist der Glaube in seiner Arbeit? «Man sagt, in Ausnahmesituationen sei der Glaube noch wichtiger als sonst. Diese Menschen leben dauernd in einer Ausnahmesituation», meint Beck. Existenzielle Fragen spielen in seinen Gesprächen mit Suchtkranken eine grosse Rolle. «Weil der Tod allgegenwärtig ist.»
Hat sich die Situation in Luzerns Gassen in den letzten Jahren verändert? «Ja, der allgemeine Gesundheitszustand unserer Klienten hat sich klar verschlechtert», bedauert Beck. Er nennt die Überschwemmung von Kokain als einen der Hauptgründe. Als grosse Herausforderung sieht er, dass sich viele ältere Süchtige der Pflegebedürftigkeit nähern, aber in den Alters- und Pflegeheimen keinen Platz finden. Deshalb ist ihm das Projekt «Sucht im Alter», das von mehreren Organisationen unterstützt wird, ein persönliches Anliegen. «Zu einem würdigen Leben gehört nicht nur eine würdige Beerdigung sondern auch in Würde, alt werden zu können – selbst dann, wenn die Lebensform nicht ins Klischee passt, wie sich die Gesellschaft alte Menschen vorstellt», schliesst Valentin Beck.
«Die Sucht ist nur ein Teil der Person, aber sie ist nicht alles»