«Die tiefsten Wahrheiten kommen nicht in der Sprache der Argumente»
Fulbert Steffensky, warum ist es wichtig, dass wir in der Kirche Rituale haben, gerade in der heutigen Zeit?
Unter Ritualen verstehe ich alle Formen, Sprachen, Gesten, die uns die Tradition lehrt oder die wir uns selber gegeben haben. Warum brauche ich sie? Sie erinnern mich daran, dass wir nicht allein sind mit unserem Glauben. Die Gesten und Formen unseres Glaubens sind speckig vom Glauben meiner lebenden und meiner toten Geschwister. Wie viele Menschen haben sich vor mir unter das grosse Spiel des aaronitischen Segens geborgen? Wie viele hat er getröstet. Ich steige in den Glaubensschatz meiner Geschwister, wenn ich ihn im Gottesdienst erfahre.
Warum aber brauchen wir noch Rituale und Zeichen? Warum leistet dies die Sprache nicht allein?
Der Mensch spielt sich nicht nur in seinem Inneren ab. Er ist auch Leib, und seine Seele tritt als Form, Figur und Geste nach aussen. Idealistische Protestanten werfen den Katholiken oft Ă„usserlichkeit vor, sie verkennen, dass das Ă„ussere die gestaltete Seele ist.
Wie meinen Sie das?
Wir glauben, beten und hoffen nicht nur mit unseren Herzen. Wir glauben, indem wir uns bezeichnen. Wir glauben, indem wir einen Ort aufsuchen, der verschieden ist von allen anderen Orten. Wir lesen den Glauben vom gestalteten Raum in unser Herz hinein – vom Altar, von den Bögen, von den bezeichneten Schwellen, von den Fenstern, vom Kreuz und von der Ikonostase. Wir brauchen uns nicht in der Kargheit unserer eigenen inneren Existenz zu erschöpfen. Bürgerliche Traditionen verlegen alles Wesentliche des Menschen in sein Inneres, in sein Herz, in sein Gewissen, in seine Seele, in die Verborgenheit. Jede äussere Religiosität gerät unter den Verdacht, Verrat an der Innerlichkeit zu sein.
Und das ist es definitiv nicht?
Ja. Es geht nicht darum, sich selber wieder loszuwerden, das eigene Gewissen, die eigene Sprache und das eigene Herz zu verlieren an bannende Orte, Zeiten, Institutionen und heilige Mechanismen. Es geht nicht darum, weniger zu werden, als man ist. Es geht darum, mehr zu werden, als man von sich aus sein kann. Und so sucht man sich Verbündete für die Seele: die «Äusserlichkeiten» der Räume, der Rhythmen, der Bauten, der Formeln, der Gesten und Rituale. Es ist eine Flucht in die Fremde, die uns mehr werden lässt, als wir sind.
Das ist eine besondere Form der inneren Schönheit, wie Sie einmal erklärt haben.
Ja. Ich will die Schönheit an einem Beispiel zeigen: Vor wenigen Wochen ist ein alter Freund von mir gestorben. In den Tagen seines Sterbens habe ich in einer Kirche eine Kerze für ihn aufgestellt. Ich lasse die Sorge um den Freund nicht verschlossen in meinem Herzen und meinen Gedanken. Meine Sorge und meine Hoffnung gehen einen langsamen Weg: Ich gehe in die Kirche. Ich kaufe eine Kerze. Ich gehe an eine bestimmte Stelle in der Kirche, zu dem schon viele vor mir gegangen sind. Ich zünde die Kerze an. Ich denke an den Freund, oder ich bete für ihn. Was ist der Unterschied zur reinen Sprache? Meine Sorge um den Freund ist Leib geworden. Sie bleibt nicht verborgen; sie führt sich auf. Sie ist zu einem Spiel geworden. Ob mein Spiel nützt, weiss ich nicht. Die Schönheit dieses Spiels ist mir wichtig, nicht sein Nutzen.
Was wollen die Rituale von Passion und Ostern vermitteln?
Vermitteln? Ich sage lieber: Sie erzählen etwas. Sie erzählen und führen in vielen Szenen den Sieg des Lichtes über die Finsternis auf. Sie erzählen und singen davon, dass wir hineinverwoben sind in das Schicksal jenes Menschen, der gestorben ist und den der Tod nicht verschlingen konnte.
Ist diese Botschaft heute noch verständlich?
Nein! Sie war es noch nie.
Wie rechtfertigen Sie als aufgeklärter Mensch Ihren Osterglauben?
Ich rechtfertige ihn überhaupt nicht. Der Osterglaube ist ein grosses Spiel der Hoffnung. Es ist schön, was ich treibe mit diesem Spiel. Schönheit braucht sich nicht zu rechtfertigen. Schönheit schämt sich nicht vor theologischer Korrektheit und vor der dürren Dame Aufklärung. Schönheit lacht über die kümmerliche Frage: War das Grab wirklich leer? Die tiefsten Wahrheiten kommen nicht in der Sprache der Argumente. Sie kommen verschleiert in der Gestalt des Märchens, der Bilder, der Kunst, der Symbole, der Erzählungen. Die tiefste Lebenswahrheit wird erzählt, gespielt, besungen, bebildert. Sie wird nicht bewiesen und nicht doziert. So frage ich nicht nach der historischen Korrektheit der Ostererzählungen. Ich frage nach ihrem Charme und ihrer Würde.
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Das Interview wurde schriftlich gefĂĽhrt.
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Fulbert Steffensky wurde 1933 in Rehlingen, Saarland, geboren. Nach der Schule studierte er katholische und evangelische Theologie. Danach trat er ins Benediktinerkloster Maria Laach ein. 1966 lernte er die evangelische Theologin Dorothee Sölle, seine spätere Frau, kennen und trat aus dem Kloster aus. Zusammen mit Sölle wurde er zu einer prägenden Gestalt der evangelischen Kirche. Heute ist er in zweiter Ehe mit der katholischen Theologin Li Hangartner verheiratet und lebt in Luzern.
«Die tiefsten Wahrheiten kommen nicht in der Sprache der Argumente»