Die Waldenser: 850 Jahre Widerstand und soziales Engagement
2024 feierten die Waldenser ein rundes Jubiläum. Vor 850 Jahren verschenkte Waldes von Lyon seinen Besitz den Armen und zog als Wanderprediger durch die Lande. Waldes gilt als Gründer der Waldensergemeinschaft. Lange vor der Reformation setzte sie sich ein für die geistliche Erneuerung der Kirche, das Lesen der Bibel, die freie Verkündigung des Evangeliums und die Armut der Kirchen.
Da ihre Mitglieder ohne Erlaubnis als Laien predigten, verurteilte der Papst sie 1184 als Ketzer und zwang die Waldenser in den Untergrund. Es folgten Jahrhunderte von Verfolgung und Flucht. Heute zählt die Evangelische Waldenserkirche weltweit rund 98000 Mitglieder, davon allein 47500 in Italien, wo die Gemeinschaft seit dem Mittelalter beheimatet ist. Hier bilden sie seit 1979 mit den Methodisten eine gemeinsame Kirche, die Chiesa Evangelica Valdese. Die Waldenserkirche zeichnet sich durch ihr soziales und gesellschaftspolitisches Engagement aus.
Auch in der Schweiz gibt es Waldensergemeinden. Damit reformierte Arbeiter aus Italien ihre Gottesdienste in der eigenen Sprache feiern konnten, entstanden im letzten Jahrhundert verschiedene «Chiese valdesi» oder «Chiese evangeliche di lingua italiana», unter anderem in Basel. Die meisten Waldensergemeinden in der Schweiz sind heute eingebettet in die reformierten Landeskirchen.
Widerstand gegen die Mafia
Die Jahrhunderte der Unterdrückung haben die Waldenser tief geprägt und ihre Wahrnehmung für Ungerechtigkeit geschärft. In Italien leisteten sie Widerstand gegen die Faschisten und die Mafia im sizilianischen Hinterland. Sie setzen sich stark für Asylsuchende und Migranten ein. 2016 organisierten sie zusammen mit dem italienischen evangelischen Kirchenbund und der katholischen Organisation Sant’Egidio einen humanitären Korridor und brachten seither tausend syrische Kriegsflüchtlinge aus dem Libanon nach Italien.
Der Fotograf Gustavo Alàbiso verbrachte seine Kindheit in der Waldensergemeinde Monte degli Ulivi bei Riesi, die seit 1871 besteht. Dort gründete der Waldenserpfarrer Tullio Vinay 1961 das soziale Projekt Servizio Cristiano, das auch eine Ganztagesschule betreibt. Alàbiso besuchte dort fünf Jahre lang die Grundschule. Seine Eltern arbeiteten als Diakone. «Alle um mich herum waren Waldenser», erzählt Alàbiso. Er und sein Bruder waren die einzigen Kinder im Zentrum. «Ich war ziemlich einsam», sagt er. Seine Klassenkameraden kamen täglich aus Riesi zu Fuss zum Unterricht. Ihnen verdankt Alàbiso seine schönsten Erlebnisse: «Sie waren meine Freunde, und ich habe sie nie vergessen.»
Aus dieser Erinnerung entstand die Fotoausstellung «Immagina Riesi» (Stell dir vor, wie Riesi sein könnte – protestantisch auf Sizilien), die im Januar in der Matthäuskirche in Basel gezeigt wird. Von 2015 bis 2020 suchte Alàbiso seine Mitschüler auf und fotografierte sie. Zeitzeugen berichten, wie die Waldenser als protestantische Minderheit im katholischen Sizilien der 60er- und 70er-Jahre wirkten, welche Konflikte es gab und wie sich der Kontakt zur einheimischen Bevölkerung positiv auswirkte.
«Das Leben ist ein Kampf»
Vor 60 Jahren herrschte grosse Armut in Riesi. Kaum jemand konnte eine Familie ernähren. Arbeitsplätze gab es in den Schwefelminen. Die Löhne waren niedrig, die Bedingungen hart und Kinderarbeit üblich. Viele wanderten aus. 1975 schloss das letzte Bergwerk. Heute baut man in Riesi Trauben, Obst, Gemüse und Oliven an. Auch hier sind die Löhne gering. Die Arbeit verrichten Erntehelfer aus Osteuropa. «Die Lebensumstände sind immer noch schwierig», sagt Alàbiso. «Das Leben ist ein Kampf.» Das Waldenserzentrum auf dem Monte degli Ulivi setzt sich weiterhin für Gleichheit, Toleranz und Bildung ein und betreut 150 Kinder.
Einige von Alàbisos Freunden verliessen Riesi. Er selbst zog vor 34 Jahren nach Karlsruhe, allerdings nicht aus wirtschaftlichen Gründen, sondern der Liebe wegen. Bei der Arbeit an der Ausstellung fragte er sich: «Was bedeutet es für mich, Waldenser zu sein?» Die Gemeinde bei Riesi prägte seine Identität. «Die Ausstellung ist meine Projektion auf die Waldenser, verankert in der Zeit, als ich dort lebte. Ich war damals Waldenser, heute kann ich das nicht mehr so sagen, denn ich habe mich verändert. In Deutschland ist die Mehrheit evangelisch, hier bin ich anders als im katholischen Sizilien nicht in der Minderheit. Die Emigration hat mir geholfen, mich selbst zu finden.»
Als Minderheit stolz und stark
Neben der Migration thematisiert Alàbiso die Rolle von Minderheiten in der Gesellschaft. Die Gründung der Winzergenossenschaft in Riesi zeige, was sie bewirken können. Interessant ist, dass die Diakonie der Waldenserkirche von weit mehr Italienern finanziell unterstützt wird, als die Kirche Mitglieder hat. «Ich glaube, das liegt an ihrer Glaubwürdigkeit und Ehrlichkeit», meint Alàbiso. «In Italien, wo es ständig Krisen gibt, repräsentieren die Waldenser etwas Gutes. Sie setzen sich für den Schutz von Minderheiten ein, und man kann sich auf sie verlassen. Das merken die Menschen. Die Waldenser sind stolz darauf, 850 Jahre lang für ihren Glauben gekämpft zu haben, auch wenn es oft aussichtslos schien. Ihr Idealismus wirkt authentisch», sagt Alàbiso.
«Immagina Riesi» (Stell dir vor, wie Riesi sein könnte – protestantisch auf Sizilien): 5.–30. Januar 2025, mit verschiedenen Begleitveranstaltungen, Vernissage mit einer Einführung von Gustavo Alàbiso, Sonntag, 5. Januar, 14 Uhr, Matthäuskirche Basel
Die Waldenser: 850 Jahre Widerstand und soziales Engagement