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Gefängnisseelsorge

«Die Weihnachtszeit ist für die meisten Häftlinge die schwierigste Zeit im Jahr»

von Carole Bolliger
min
28.11.2024
In der kargen Welt hinter Gittern bringt Marianne Wiedmer als Gefängnisseel-sorgerin Licht in die dunkelsten Winkel menschlicher Existenz. Sie begleitet Inhaftierte im Bostadel Zug und findet dabei oft überraschende Momente der Menschlichkeit.

Marianne Wiedmer, Sie sind als Gefängnisseelsorgerin tätig. Was hat Sie dazu motiviert, diesen Weg einzuschlagen?

Ich sehe den Sinn in meiner Arbeit als Seelsorgerin. Mir liegen Menschen mit brüchigen Biografien und schwierigen Situationen am Herzen. Zuvor war ich als Vollzugsverantwortliche im Straf- und Massnahmenvollzug tätig. Die hilfestellenden Grenzen innerhalb des Justizvollzugs belasteten mich zunehmend. Daraus entstand die Entscheidung, mich zur Gefängnisseelsorgerin weiterzubilden.

Welches sind die grössten Herausforderungen, denen Sie in Ihrer Arbeit mit Inhaftierten begegnen?

Die menschlichen Schicksale sind eine grosse Herausforderung. Schwere Krankheiten und Todesfälle von nahen Personen sind prekäre Situationen. Die Kontaktmöglichkeiten sind eingeschränkt, die Inhaftierten können nicht Abschied nehmen oder an wichtigen Ereignissen teilnehmen. Schwierige Zeiten sind die Delikttage selbst, insbesondere bei Tötungsdelikten. Ich habe noch nie jemanden erlebt, bei dem man nahezu sagen könnte, es wäre ihm egal, was er getan hat.

Sie sitzen mit Mördern und Vergewaltigern allein im Raum. Hat es schon einmal eine brenzlige Situation gegeben?

Nein, nicht annähernd. Mir wird von den Inhaftierten ausnahmslos sehr viel Respekt und Vertrauen entgegengebracht.

Hat sich Ihr Blick auf Gerechtigkeit durch Ihre Arbeit im Gefängnis verändert?

Ja, meine Arbeit schärft das Bewusstsein für Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit enorm.

Wie bauen Sie Vertrauen zu den Inhaftierten auf, besonders wenn diese misstrauisch gegenüber Autoritäten sind?

Vertrauen entsteht schnell, weil ich keine staatliche Autorität bin. Alles, was mir erzählt wird, bleibt vertraulich und wird nicht aktenkundig. Seelsorge ist reine Beziehungsarbeit, ich zeige dem Inhaftierten, dass ich ihn sehe in allem menschlichen Leid. Das geschieht im vorbehaltlosen Zuhören. Die Inhaftierten kommen freiwillig zu mir, das ist die Grundlage für Vertrauen. Ich habe nie Akteneinsicht, doch die meisten erzählen mir schon im ersten Gespräch von ihrem begangenen Delikt.

Erschüttert es Sie manchmal, von schweren Verbrechen zu hören?

Ja, manchmal schon. Aber die Strafe ist der Freiheitsentzug. Das Moralisieren liegt mir fern und hat ganz klar keinen Platz in der Seelsorge. Die Straftaten dürfen jedoch nicht bagatellisiert werden, denn sie sind schlimm, tragisch und unauslöschlich. Aber im Gespräch geht’s um ein menschliches Miteinander. Und glauben Sie mir, die meisten Inhaftierten sind oft am meisten schockiert darüber, wozu sie selbst fähig waren.

Welche Themen werden von den Häftlingen am häufigsten angesprochen?

Das Delikt selbst, das Tatvorgehen, wie ihr Leben vorher war. Schuld, Scham, Reue, Sühne und die Strafe sind vordergründig. Dabei wird oft die innere Einsamkeit geschildert, auch weil während des Freiheitsentzugs jeder auf sich selbst zurückgeworfen ist.

Welche Bedeutung hat das Thema Vergebung in der Gefängnisseelsorge?

Vergebung hat einen grossen Stellenwert. Es gibt Unrecht, für das es keinen angemessenen Schuldausgleich gibt. Demgegenüber steht Gottes Angebot der Vergebung. Gott steht immer auf der Seite der Inhaftierten, vorbehaltlos und oft als einzige Konstante in ihren Lebensgeschichten. Diese Botschaft ist meine Haltung, die ich den Inhaftierten zeige: Ich bin als Mensch da und bleibe es auch, selbst wenn es schwer und oft bitter wird.

Wie sieht es mit der Selbstvergebung aus?

Selbstvergebung zu lernen, ist schwierig. Das heisst nicht, das eigene Handeln zu entschuldigen, sondern sich mit dem Delikt und wie es dazu kam, auseinanderzusetzen. Daran führt kein Weg vorbei, und er kann nicht abgekürzt werden. Doch für viele ist Selbstvergebung unmöglich, weil es zu schmerzhaft ist, sich mit dem Schaden des Opfers auseinanderzusetzen.

Wie sieht Weihnachten im Gefängnis aus?

Wir bieten je einen Weihnachtsgottesdienst im geschlossenen Normalvollzug und in der Sicherheitsabteilung an. Aber die Weihnachtszeit im Gefängnis ist hochemotional und sehr stress- und eskalationsanfällig. Die familiären Tragödien, wie etwa kein Kontakt zu den eigenen Kindern, kommen stärker ans Licht. Den Inhaftierten wird besonders in dieser Zeit vor Augen geführt, was sie auch selbst verloren haben. Die Weihnachtszeit ist für die meisten Häftlinge die schwierigste Zeit im Jahr.

Wie sehen Sie die Rolle der Kirche im Kontext von Strafvollzug und Resozialisierung?

Ich denke, die Kirche könnte da einen grösseren Beitrag leisten, zum Beispiel die Reintegration gewährleisten. Die kirchlichen Angebote könnten den Inhaftierten eine emo-tionale Stütze darin sein, ein neues Leben aufzubauen. In meiner Erfahrung fehlen den Inhaftierten bei der Entlassung draussen die Struktur und die Orientierung beinahe gänzlich. Wir verfügen über kirchliche Ressourcen wie Budgetberatung oder Vermittlung zwischen Familien, die wir vermehrt einsetzen könnten.

Die Kirche könnte auch eine bedeutende Rolle spielen, indem sie der moralisierenden und verurteilenden Haltung entgegenwirkt, die den Inhaftierten von der Gesellschaft bei der Entlassung entgegenkommt. Meines Erachtens hat die Kirche die nötigen Werkzeuge und die Menschen, um dies aufzufangen. Das würde ich sehr begrüssen. Denn: Die Gesellschaft vergibt nie; die Entlassung ist meist die härtere Strafe als die Haft.

Wie unterscheidet sich die Seelsorge im Strafvollzug von anderen Einrichtungen wie einem Spital?

Die Gefängniswelt ist strikt getaktet, sie duldet kein Abweichen von sicherheitsrelevanten Rahmenbedingungen. Ich gehe durch die Sicherheitsschleuse und werde ab da wie alle Inhaftierten von Kameras beobachtet, die Türen bis zu meinem zugewiesenen Raum werden via Zentrale geöffnet und wieder geschlossen. Dieses enge Setting gibt mir aber auch die Möglichkeit nachzufühlen, wie es den Inhaftierten geht, wenn sie nicht einfach allein durch eine Tür gehen können.

Wie gehen Sie mit der emotionalen Belastung um, die Ihre Arbeit mit sich bringt?

Ich plane bewusst genügend ruhige Zeiten für mich ein, ohne Kontakt zu anderen Personen. Ich muss die enorme Spannung aushalten können, wenn mir der Tathergang berichtet wird. Gleichzeitig muss ich die eigene Haltung zum Vorgefallenen regulieren und dabei klare Grenzen setzen und mich nicht täuschen lassen. Es ist ein Privileg, all diese Schicksalsschläge tragen zu können.

Welche Rolle spielt Spiritualität in der Resozialisierung von Inhaftierten?

Spiritualität ist eine persönliche Entscheidung jedes Inhaftierten. Sie kann helfen, den Haftalltag zu bewältigen, insbesondere in der ständigen Selbstinfragestellung auf der Suche nach dem Umgang mit dem Geschehenen. Ich bin überzeugt, dass seelsorgerliche Unterstützung zur gelingenden Resozialisierung beitragen kann. Ich denke da beispielsweise an die Befähigung der Inhaftierten, sich auf ein legales Leben nach der Haft vorzubereiten.

Wie gehen Sie mit den unterschiedlichen Glaubensrichtungen und spirituellen Bedürfnissen der Inhaftierten um?

Wir werden im Studium in der interreligiösen Zusammenarbeit geschult, um gezielte Hilfestellungen zu geben. Und sicher hilft mir auch meine berufliche Erfahrung, um individuelle Bedürfnisse der Religionsausübung zu erkennen und professionell zu vermitteln.

Wie hat sich die Gefängnisseelsorge in den letzten Jahren verändert, und welche Trends beobachten Sie?

Die kulturelle und religiöse Vielfalt der Inhaftierten hat stetig zugenommen. Wir können christliche Seelsorge, muslimische Imame oder einen Rabbi anbieten. Zwei meiner Seelsorgeteilnehmer baten darum, eine Beichte ablegen zu können. Ihnen konnte ich einen Priester vermitteln, der sie im Gefängnis besuchen kam. Ich schätze diese interreligiöse Zusammenarbeit sehr.

Die Ausbildung und die Qualifikation von Gefängnisseelsorgern haben sich professionalisiert. Es gibt ein gezieltes Studium, das sicherstellt, dass wir Seelsorger gut auf unsere Aufgaben vorbereitet sind. Eine weitere Veränderung beobachte ich im erhöhten Sicherheitsfokus und dem Sicherungsbestreben des Strafvollzugs. Diesen Trend betrachte ich sorgenvoll, denn er richtet sich auch gegen jene Inhaftierten, deren Vollzugsverlauf seit vielen Jahren sanktionslos verläuft – ihnen jedoch aufgrund des Sicherheitsbestrebens trotzdem keine Progressionsstufen gewährt werden.

 

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