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Katholisches Kirchenrecht

«Diese Deutungshoheit steht der Kirche nicht mehr zu»

von Vera Rüttimann
min
22.09.2023
Luc Humbel, Kirchenratspräsident der römisch-katholischen Landeskirche des Kantons Aargau und Rechtsanwalt, spricht im Interview mit dem Kirchenboten über die Studie zu den sexuellen Missbräuchen in der katholischen Kirche.

Luc Humbel, in dieser Woche wurde die Studie zu den sexuellen Missbräuchen in der Katholischen Kirche veröffentlicht. Haben Sie dieses Ausmass erwartet?

Es war leider zu erwarten, wenn man die Zahlen mit den Studien in unseren Nachbarländern reflektiert. Zu denken gibt weiter, dass es sich dabei gemäss den Autoren um die Spitze des Eisbergs handeln soll.

Wie geht es Ihnen da als Katholik?

Es geht mir als Menschen und auch als Katholik nicht gut. Ich arbeite in einer Kirche, welche sich viel zu lange auf die Seite des Systems und des Machterhalts und nicht zu den Opfern hingewandt hat. Das beschämt mich.

Die Zürcher Regierungsrätin Jacqueline Fehr äusserte sich zur Studie auf LinkedIn und meinte: «Die kirchliche Organisationsstruktur erfüllt grundsätzliche rechtsstaatliche Prinzipien nicht.» Stimmt diese Aussage?

Dem ist nichts beizufügen. Ich teile diese Einschätzung. Einzig das duale System mit der staatskirchenrechtlichen Ausprägung kennt die Gewaltenteilung, die Gleichberechtigung und das Diskriminierungsverbot.

Trotzdem hat man das Gefühl, die Katholische Kirche agiere in einem eigenen Rechtsraum. Anders kann man sich nicht erklären, dass die Täter so geschützt wurden.

Das war viel zu lange so. Aktuell würde ich die Lage anders beurteilen. Wir kennen im Aargau seit mehreren Jahren eine Anzeigepflicht für Mitarbeitende, die von Missbrauch Kenntnis haben, und wir arbeiten mit den staatlichen Opferhilfestellen zusammen.

Sind die Vergehen auch nach Kirchenrecht strafbar? Warum haben die Bischöfe nicht gehandelt, sondern die Aufklärung eher verzögert? Wäre das rechtlich nicht ihre Aufgabe gewesen.

Diese Vorwürfe stehen im Raum. Es liegt nicht an mir, ohne Kenntnis des Sachverhaltes darüber zu befinden.

Was bedeutet dies für die betroffenen Opfer? Erhalten sie Gerechtigkeit?

Gerechtigkeit ist in diesem Kontext ein schwieriger Begriff. Die Opfer leiden ein Leben lang. Wir können Genugtuung leisten. Dafür gibt es eine Kommission auf Bundesebene. Die Landeskirchen äuffnen diesen Fonds zusammen mit den Bistümern und den Orden.

Die Fakten zeigen, dass etwas in der katholischen Kirche nicht stimmt. Was müsste sich Ihrer Meinung nach ändern?

Macht müsste geteilt werden und den Menschenrechten müsste Nachachtung geschenkt werden.

Zeigen diese Missbrauchsfälle nicht, dass das Pflichtzölibat und die katholische Sexualmoral eigentlich in die falsche Richtung führen und unmenschlich sind?

Beide Ausprägungen sind bevormundend und stehen für eine Deutungshoheit, welche der Kirche längst nicht mehr zusteht.

Auch wenn es bei den Reformierten Kirchen in der Schweiz sicher auch Fälle von sexuellem Missbrauch gibt, kann man davon ausgehen, dass es Einzelfälle sind. Was macht da die Reformierte Kirche anders oder gar besser?

Das kann und will ich nicht beurteilen. Es wäre eine Chance gewesen, die Studie gemeinsam in Auftrag zu geben.

Viele Katholiken überlegen sich jetzt gut, ob sie noch Mitglied in dieser katholischen Kirche sein wollen. Was sagen Sie denen?

Auch in diesem Entscheid soll die Kirche nicht bevormundend sein. Mit der Kampagne www.kirchensteuer-sei-dank.ch zeigen wir, dass über 80% der Steuern in der Wohnsitzgemeinde ausgebeben werden. Für die Seelsorge und die diakonische Arbeit vor Ort. Wenn dieses Geld fehlt, trifft es Personen, die die belastenden Umstände nicht zu verantworten haben. Es bleibt immer ein höchstpersönlicher Entscheid, welcher zu respektieren ist.

 

Studie zu sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche

Ein Team der Uni Zürich hat mindestens 1000 Fälle von sexuellem Missbrauch aufgedeckt. Belastet werden auch zwei St. Galler Bischöfe. Sie sollen nicht konsequent genug gegen einen Missbrauchstäter aus dem Bistum vorgegangen sein. Die Studie wurde am 12.09.2023 vorgestellt. Darin wird von insgesamt 1002 Fällen, 510 Tätern und 921 Opfern gesprochen – darunter auch Kleinkinder und Säuglinge. Ein Novum: Zum ersten Mal durfte ein unabhängiges Forschungsteam in Schweizer Kirchenarchiven über sexuellen Missbrauch im Umfeld der römisch-katholischen Kirche aus einem Zeitraum von 1950er Jahren bis heute recherchieren.

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