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«Diese enorme Verwahrlosung zu erleben, war erschütternd.»

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03.03.2020
Der Film «Platzspitzbaby» führt zurück in die offene Drogenszene der 80er-Jahre in Zürich. Damals engagierten sich die Kirchen. Obdachlosenpfarrer Ernst Sieber führte die Fixer aus Zürich hinaus. Und Schaffhausen bewilligte das erste Fixerstübchen der Schweiz.

Der Film «Platzspitzbaby» füllt zurzeit die Kinosäle. Zehn Tage nach der Premiere im Januar haben schon mehr als 100‘000 Zuschauer den Streifen gesehen. Der Film über eine drogenabhängige Mutter und ihre Tochter führt zurück in eines der dunklen Kapitel der Schweizer Sozialgeschichte. Damals war der «Needlepark» hinter dem Landesmuseum das Mekka für Fixer, Kriminelle und Drogentouristen aus ganz Europa.

Kirchenratspräsidentin auf dem Platzspitz
Silvia Pfeiffer, damals Schaffhauser Kantons- und Kirchenrätin, erinnert sich: «Ich war oft auf dem Platzspitz, um mit den Leuten zu reden. Diese enorme Verwahrlosung zu erleben, war erschütternd.» Im Jahr 1985 übernahm Pfeiffer das Präsidium des Vereins für Jugendfragen, Prävention und Suchthilfe Schaffhausen VJPS. Drei Jahre zuvor hatte der Verein die Notschlafstelle «Schärme» eingerichtet. «Die Schaffhauser Bettagsaktion sicherte die Einrichtung mit 104 000 Franken», sagt Silvia Pfeiffer. Im selben Jahr finanzierte die Kirche eine Stelle der Sucht- und Drogenberatungsstelle und 1988 eröffnete die Gassenküche. «Die Schaffhauser Kirche war mit jährlichen Beiträgen von 150‘000 Franken am Aufbau dieser VJPS-Einrichtungen beteiligt», so Silvia Pfeiffer.

3600 Drogenabhängige reanimiert
In den folgenden zwei Jahren spitzte sich die Situation auf dem Platzspitz immer weiter zu: 1991 wurden im Park fünf Millionen Spritzen verteilt. 3600 Drogenabhängige wurden reanimiert. 21 Menschen starben im Park. Am 5. Februar 1992 räumte die Polizei den Platzspitz, und die Szene verlagerte sich zum verlassenen Bahnhof Letten an der Limmat, der 1995 ebenfalls geräumt wurde. 

In der Folge wurde das Drogenelend auch in Schaffhausen sichtbar. «Die Menschen lagerten vor allem an der Repfergasse, das hatte auch politische Folgen», erzählt Silvia Pfeiffer. «Man begann zu realisieren, dass der Ausstieg über den Weg der sozialen und gesundheitlichen Stabilisierung eher zu erreichen ist als durch weitere Verelendung.» 1994 sagte das Schaffhauser Stimmvolk nach einem heftigen Abstimmungskampf Ja zum Tagesraum TASCH, in dem Drogenabhängige saubere Spritzen, medizinische Betreuung und Beratung erhielten.

Stimmvolk beschliesst Überlebenshilfe
«Erstmals in der Schweiz sagte das Stimmvolk Ja zur Überlebenshilfe», so Pfeiffer. Dieser Entscheid signalisierte eine Wende in der schweizerischen Drogenpolitik. Pfeiffer erinnert sich gut an die erste Zeit des TASCH: «Im Vorraum konnten sich die Leute verpflegen. Viele von ihnen hatten Hunde dabei. Ich war anfangs täglich dort und habe die Hunde gehütet, während sich die Leute im Injektionsraum aufhielten.» 

«Die Sucht gehört zu meinem Leben»
Auch Pascale Etter erinnert sich gut an die Zeiten auf dem Platzspitz, der damals ihre Heimat war. Bis heute ist sie süchtig. Seit drei Jahren sitzt sie im Rollstuhl, die meisten ihrer Zähne sind ausgefallen. Sie wohnt im Spital des Sozialwerks Pfarrer Sieber und blickt auf eine lange Suchtkarriere zurück. Angefangen mit dem ersten Joint, Sugar, «dann spritzte ich Heroin», nuschelt sie so emotionslos, als würde sie eine Menükarte vorlesen. «Ja, an den ‹Needlepark› kann ich mich gut erinnern. Da gab es jeden Stoff, gute Qualität.» Sie wolle diese Zeit nicht verteufeln, «da gab es auch gute Sachen», erzählt die 54-Jährige. Die meisten ihrer damaligen Kollegen seien inzwischen gestorben.

Nach der Auflösung vom Platzspitz lebte Pascale Etter «da und dort» und kam in ein Methadonprogramm. «Das hat den Druck etwas genommen», sagt sie. «Nach einem Entzug war ich clean.» Doch dann habe sie in Zürich wieder Leute getroffen und war «mittendrin». Die Sucht gehöre zu ihrem Leben, sagt sie, eigentlich wollte sie nie weg.

Die Kirche machte Drogenpolitik
Die Kirche machte damals Drogenpolitik. An vielen Orten versuchten Pfarrerinnen und Pfarrer, Diakone, Sozialarbeiter und Freiwillige die Fixer unterzubringen. Vorab Obdachlosenpfarrer Ernst Sieber, der sich unermüdlich um die Abhängigen kümmerte. Legendär sind seine öffentlichen Auftritte auf dem Platzspitz und dem Letten.

«Betten statt Letten»
Kurz vor Heiligabend 1994 startete Sieber sein Projekt «Betten statt Letten». Mit einem Sonderzug fuhren fünfzig Fixerinnen und Fixer vom Zürcher Letten nach Kollbrunn. In einer leerstehenden Spinnerei fanden die Drogenabhängigen ein Dach über dem Kopf und ein «neues Daheim». Das Projekt stiess bei der Öffentlichkeit auf grosses Echo. Für Sieber war dies Teil des christlichen Auftrags. Er verglich die Süchtigen mit den Gelähmten in der Bibel: «Die Lähmung kann durchbrochen werden, wo echte, tiefe Wahrnehmung und Begegnung ist», sagte er. Siebers Aufruf zeigte Wirkung: In verschiedenen Gemeinden entstanden Notschlafstellen für Obdachlose.

Kirchenbund proklamiert «Dritten Weg»
Auf politischer Ebene proklamierte der Schweizerische Evangelische Kirchenbund den «Dritten Weg» in der Drogenpolitik. «Mit diesem Vorstoss wollen wir vor allem die Polarisierung in der Diskussion überwinden», erklärte Hans-Balz Peter, damals Leiter des Instituts für Sozialethik in Bern. Die Kirche schlug einen Weg vor zwischen Prohibition und Legalisierung der Drogen. Wichtiges Ziel jeder Drogenpolitik sei die Verminderung des Konsums und Förderung der Gesundheit und Lebensqualität, so der Kirchenbund.

Konsumräume weniger besucht
Vieles, was damals die Kirche gefordert hatte, wurde umgesetzt. Heute sind die Besucherzahlen im TASCH Schaffhausen stark rückläufig, genau wie in den anderen Schweizer Konsumräumen. Markus Luck, Geschäftsführer des VJPS, vermutet mehrere Ursachen für den Rückgang: «Es kann sein, dass nicht mehr so viele Menschen in den TASCH kommen, weil sie andere Substanzen konsumieren oder andere Formen des Konsums bevorzugen. Heute kann man durch Substitutionsprogramme und mit niederschwelliger Drogenarbeit lange mit einer Drogensucht leben.»

In der heutigen Gesellschaft würden nicht mehr einzelne Substanzen wie Heroin im Vordergrund stehen: «Sehr verbreitet ist Kokain oder ärztlich verschriebene Beruhigungsmittel», sagt Luck. Nicht zu vergessen sei die Gesellschaftsdroge Alkohol, die jährlich die meisten Todesopfer fordere. 

Noch einmal das Meer sehen
Und was erwartet Pascale Etter von der Zukunft? Sie freut sich darauf, in ein Altersheim des Sozialwerks Pfarrer Sieber ziehen zu können. Bald kann sie das Zimmer besichtigen. Und die 54-Jährige träumt davon, einmal ans Meer zu fahren. Vor Jahrzehnten, als sie in Apulien zum Entzug war, sah sie die Weite und das Blau des Meeres. «Das war schön», sinniert sie. «Das möchte ich nochmals sehen.»

Adriana Schneider, Tilmann Zuber, kirchenbote-online, 3. März 2020

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