Ein Bilderbuch erzählt von Zwinglis radikalen Erben
Ist es ein Comic? Oder ein Band mit einer illustrierten Bildergeschichte? Oder eher eine Collage aus vielen verschiedenen Erzählsträngen, die sich zuletzt zu einer Gesamtgeschichte fügen? Das neu erschienene Buch aus der Schreibfeder von Ulrich J. Gerber und dem Zeichenstift von Jean-Pierre Gerber ist von allem ein bisschen.
Auf den ersten Blick wirkt der Band «Sie sind von uns ausgegangen» jedenfalls anregend wild, ein bisschen wie ein Flyer zu einem Underground-Kulturanlass. Auf den zweiten Blick stellt sich denn auch reges Interesse ein: Die expressiven Bilder und die handschriftlichen Erläuterungen berichten eingängig, ja eindringlich von der Geschichte des Schweizer Täufertums in all ihren Höhen und Tiefen, mit speziellem Fokus auf den Jurabogen, wo die Mennoniten noch heute besonders präsent sind.
Von den Häschern gefoltert
Die fiktive Erzählerin heisst Magdalena Gurtner. Sie sitzt im Rollstuhl. Der Grund: Sie ist Täuferin und irgendwann im 17. Jahrhundert als junge Frau von der Berner Obrigkeit wegen ihres Glaubens so sehr gefoltert worden, dass sie seither nicht mehr gehen kann. Sie lässt die in grossen Teilen leidvolle Geschichte ihrer Glaubensgemeinschaft Revue passieren. Dabei setzt sie mit dem Leben des Zürcher Reformators Huldrych Zwingli an, mit dem alles begann.
In gestraffter Form erlebt der Leser, die Leserin, wie der humanistisch und theologisch geschulte Priester 1519 in Zürich auftaucht und die dortige Glaubenswelt aufmischt und umformt. Schon bald zeigt sich, dass einige seiner Gefolgsleute besonders radikal zu Werke gehen möchten, was Zwingli missfällt.
Die Abweichler taufen sich gegenseitig
Zum Bruch kommt es 1525, als sich die Dissidenten in Zollikon gegenseitig taufen. Sie sehen die Taufe als bewussten Akt des Glaubens, der nur von Erwachsenen im Vollbesitz ihrer Entscheidungsfreiheit begangen werden kann. Zwingli sieht die Taufe dagegen als Anfang eines christlichen Lebenswegs, der bereits im Kindesalter beginnt.
Magdalena Gurtner erzählt, wie ihre Glaubensschwestern und -brüder fortan als religiöse Unruhestifter gelten und von der Obrigkeit verfolgt werden, nicht nur in Zürich, sondern – und hier besonders lange, scharf und hartnäckig – auch im Staat Bern. Mit schlimmen Folgen für die Täufer: Sie werden aufgespürt, verhört, gefangengesetzt oder in den Galeerendienst verkauft. Und manchmal auch hingerichtet.
Mit Hörnerschall gegen die Täuferjäger
Im Emmental sind eigentliche Täuferjäger unterwegs, die den Andersgläubigen auf die Schliche kommen sollen. Die obrigkeitlich bestallten Häscher machen die Rechnung freilich ohne die Einheimischen: Diese stehen meist auf der Seite der Dissidenten und warnen sie mit Hörnerschall, wenn die Täuferjäger anrücken. Die Emmentaler Bauern schrecken auch nicht davor zurück, die Schergen der Regierung zu verprügeln.
Dennoch ziehen viele Täufer weg, in die Niederlande etwa oder auf die Jurahöhen, wo sie ausgerechnet vom katholischen Fürsten, dem Bischof von Basel, ausdrücklich geduldet werden, unter bestimmten Auflagen. Als der Jura nach dem Wiener Kongress 1815 dem Kanton Bern zugschlagen wird, kommen die Täufer wieder unter die Obhut ihrer alten Regierung. Diesmal aber geht es friedlich: Jetzt gilt Glaubensfreiheit.
Pioniere im Landbau
«Die Isolation auf den meist hoch gelegenen Höfen zwang die Täufer dazu, eigene neue Wege zu finden, wenn sie überleben wollten», berichtet die Erzählerin Magdalena Gurtner im Buch. Sie werden Pioniere in der Landwirtschaft, arbeiten hart und verbessern ihre Lebensbedingungen. Unter ihrem Einfluss wird das Freiberger Pferd zum berühmten Arbeits- und Freizeitpferd, sie züchten das Jura-Schaf und erweisen sich als treffliche Halter der Simmentaler Kuh. Sie organisieren die Schulbildung selber und kennen sich in der Heilkunde aus.
Das Buch berichtet auch Überraschendes. Gemeinhin gelten die Täufer oder Mennoniten, wie sie sich heute nennen, als Pazifisten. Das trifft aber nicht auf alle zu. Nebst den friedliebenden «Stäblern» gab und gibt es die wehrhaften «Schwertler». Zum Beispiel den Kavallerie-Major David Gerber, der während des Zweiten Weltkriegs zum Offiziersbund gehörte. Dessen Mitglieder wollten die Regierung stürzen, falls die Schweiz 1940 den Nazis nachgegeben hätte, und ihr Land bis zum Äussersten verteidigen.
Der Bund flog auf, aber General Henri Guisan bestrafte die Verschwörer nur milde. Gerber kam mit einem Verweis davon.
Den Forscherdrang anregen
All dies und noch viel mehr hat auf den 70 Seiten des eher heftförmig angelegten Buches Platz, zum Beispiel auch die Bereiche Mission, Kultur, Öffnung gegenüber der Welt und die Frauenfrage. Die Breite des Themas und der Wunsch nach einer gewissen Vollständigkeit macht Verkürzungen unumgänglich. Entsprechend werden mache Dinge im Buch mehr angetönt denn restlos erklärt, was dem Werk aber wenig Abbruch tut, denn letztlich will es kein akademisches Kompendium sein, sondern das allgemeine Interesse wecken und zu vertieftem Nachfragen und Nachforschen anregen.
Besonders anrührend ist die Tatsache, wie sehr Zwingli von der gelähmten Erzählerin Magdalena Gurtner als Vater des Täufertums gelobt und geschätzt wird – ausgerecht er, der doch an der Seite seiner Zürcher Obrigkeit den Täufern übel mitspielte und es nicht zu verhindern wusste, dass einige von ihnen grausam hingerichtet wurden. Zwingli seine Vergehen zu vergeben und vor allem seine Verdienste zu würdigen, ist ein bemerkenswertes Stück Christsein.
Späte Worte der Reue
Und die Berner Amtskirche? Wie hat sie ihr Christsein gegenüber ihren aufmüpfigen Brüdern und Schwestern im Glauben bekundet? Nachdem die Täuferverfolgungen im Lauf des 18. Jahrhunderts eingestellt worden waren, blieb es um das Thema lange Zeit still. Erst im November 2017 fand die Leidensgeschichte einen versöhnlichen Abschluss, als sich der damalige bernische Kirchendirektor Christoph Neuhaus im Namen der Regierung offiziell bei den Mennoniten für das erlittene Unrecht entschuldigte.
Hans Herrmann, reformiert.info
Ein Bilderbuch erzählt von Zwinglis radikalen Erben