Ein Film über das Sterben – und über das volle Leben
Als Robert Widmer-Demuth am 18. August 2022 stirbt, tritt er aus einem vollen Leben. Hinter ihm liegen acht Monate des langsamen Zerfalls, der Schmerzen, der Müdigkeit und des Abschiednehmens. Zugleich sind es aber auch acht Monate der Lebenslust, des Geschichtenerzählens, des Tanzens und der Hundespaziergänge.
Christian Labhart und seine Partnerin Heidi Schmid haben mit ihrem Dokumentarfilm «Röbi geht» ein intimes Porträt von Robert Widmer-Demuth, «Röbi», und seinem letzten Lebensabschnitt geschaffen. Der Film ist nach einer langen Kinolaufzeit nun auch online erhältlich und wird an den Solothurner Filmtagen gezeigt. Zudem haben Labhart und Schmid das Buch «Komm durch die offene Tür» veröffentlicht, in dem Gedichte und Reflektionen ihres Protagonisten Röbi gesammelt sind.
Darf man einen Menschen beim Sterben filmen?
Eigentlich hatte Heidi Schmid überhaupt keine Lust, den Film zu drehen. «Ohne mich!», habe sie zu Christian Labhart gesagt, als dieser zum ersten Mal mit der Idee zu ihr kam. Es war Dezember 2021. Robert Widmer-Demuth, ein loser Bekannter der beiden, hatte gerade seine Lungenkrebsdiagnose bekommen und unter den Freunden und Nachbarn kommuniziert, dass er auf jede Therapie verzichten werde. Einen Menschen beim Sterben zu filmen, fand Schmid, das sei voyeuristisch.
Dass sie sich dennoch dazu überreden liess, lag vor allem an Röbi selbst. Am 3. Januar 2022 besuchten Schmid und Labhart ihn und seine Frau zum ersten Mal zu Hause in Robenhausen in Wetzikon. «Bei diesem ersten Treffen war mir schnell klar: Röbi hat so viel zu erzählen aus seinem Leben», sagt Schmid rückblickend. «Das wird nicht ein Film über sein Sterben, sondern über seine Geschichte.» Schon vier Tage später begannen sie mit den Dreharbeiten.
Dass es so schnell ging, hatte auch mit Widmer-Demuths Diagnose zu tun. Würde er überhaupt lange genug leben, um den Film fertigzustellen? «Wir wussten nicht, was auf uns zukommt», erinnert sich Schmid. «Wir hatten eine kleine Kamera und fingen einfach mit dem Filmen an.» Als roter Faden kristallisierte sich bald ein Satz heraus, den Widmer-Demuth zu Weihnachten in einem Brief an Freunde und Familie geschrieben hatte: «Gerne empfangen wir Besuch.»
Gedichte an den «Bruder Tod»
So findet denn auch der grösste Teil des Films in Röbis Wohnzimmer statt. Röbi auf der Couch, neben ihm mal seine Enkel, mal ein Nachbar, mal die Ärztin, mal ein Freund, mal die Schwiegertochter. Mit ihnen redet er über das Leben. Über das Alltägliche und über das Ende. Seinen Krebs nennt er liebevoll «Chräbsli» und er schreibt Gedichte an den «Bruder Tod»:
«Komm durch die offene Tür
in einer klaren Stunde
nicht so bald
ich hab noch Einiges zu leben.»
Die «klare Stunde» ist Widmer-Demuth ein besonderes Anliegen. Er verzichtet auf lebensverlängernde Therapien und Schmerzmittel, um in seinen letzten Wochen so präsent wie möglich zu sein. «Sie würden mein Leben, unser gemeinsames Leben, nur wenig verlängern», schreibt er in einem Statement. «Und das zu einem zu hohen Preis: Des pharmazeutisch-radiologisch-chirurgisch beherrschten Überlebenskampfes. Jedenfalls, so meinen wir, dass mit den palliativen Möglichkeiten eine lebenswerte Qualität eher gewährleistet sein wird.»
Und wenn die Schmerzen zu gross werden, wird er sich klaren Kopfes entscheiden zu gehen. Er ist bei Exit angemeldet, seine Frau und er haben das so vereinbart. «Ich traf diese Entscheidung nie alleine», sagt er an einer Stelle zu einem Bekannten, der wie er an Lungenkrebs leidet und neben ihm auf der Couch sitzt.
«Aber es ist doch dein Leben?», ruft der Bekannte erstaunt aus.
«Es ist auch ihr Leben», kontert Widmer-Demuth. «Es ist unser Leben.»
Die stille Kamerafrau
Heidi Schmid, 1953 in Zürich geboren, arbeitete lange als Lehrerin und Landwirtin, ehe sie 2019 anfing, mit Labhart an Filmen zu arbeiten. Auch Christian Labhart war im Lehrer- und Landwirtsberuf tätig und dreht bereits seit 2000 Filme.
Schmid beobachtete mit der Kamera viele Stunden, während Röbi in der kleinen Stube auf der Couch mit seinen Gästen sprach. Gestandene Männer brachen in Tränen aus, angesichts des bevorstehenden Sterbens ihres Freundes. Manchmal sprach auch niemand. Heidi Schmid liess die Kamera leise weiterlaufen und wurde selber fast zum Inventar des alten Hauses. Dies verlieh dem Film eine aussergewöhnliche Intimität.
«Das Sofa ist für mich das Herz des Films», sagt Schmid. «Ich durfte Röbi und seinen Gästen so nah sein und spüren, wie sie mit der Situation umgehen. Diese Erfahrung wollte ich mit dem Publikum teilen.» Auch Labhart war es wichtig, keine didaktische Botschaft mit dem Film zu vermitteln. «Mein Ziel war es, einen Menschen zu begleiten, der stirbt», sagt er. «Die Leute können selbst entscheiden, was sie daraus mitnehmen.»
70 Stunden Film für 80 Minuten Kino
Schmid und Labhart waren sich lange Zeit nicht sicher, ob der Film überhaupt funktionieren würde für ein Publikum, das den ortsbekannten Röbi und seine Familie nicht kennt. Widmer-Demuth war in der Zürcher Wohn- und Arbeitsgemeinschaft «Suneboge» aktiv, eine Organisation, die sich für Obdachlose engagiert. Dabei arbeitete er lange Zeit eng mit dem Zürcher Pfarrer Ernst Sieber zusammen, der auch im Film immer wieder Erwähnung findet.
Schmid und Labhart schnitten den fertigen Film gemeinsam. 70 Stunden Rohmaterial waren es insgesamt, die auf 80 Minuten heruntergekürzt werden mussten. Der «Suneboge» und Pfarrer Sieber waren Schmid ein grosses Anliegen. «Da hatten wir beide auch mal Krach», erinnert sie sich, Labhart könne sehr hartnäckig sein. «Der Hauptstreitpunkt», stimmt er ihr zu, «war der, dass ich den Tod stärker im Fokus haben wollte als sie.» Die Diskussion, ob der Film ein Porträt über Röbi würde oder eine Geschichte über den Tod habe viele Stunden gedauert. Herausgekommen ist etwas von beidem.
Buch und Film finden in der Sterbebegleitung Anklang
Film und Buch finden über Zürich hinaus grossen Anklang. Sie werden bereits in Ausbildungen zur Sterbebegleitung und eingesetzt und bei Seniorentreffen gezeigt. Ein Sterbehospiz habe gleich zehn Exemplare des Buchs bestellt, sagt Heidi Schmid stolz. Und eine Katechetin habe zu ihr gesagt, ihr sei noch nie etwas begegnet, das das Thema so gut aufgreife.
Der Tod werde oft viel zu schnell zu etwas Esoterischem verklärt, bemängelt Christian Labhart. Aber Robert Widmer-Demuth beherrschte die Kunst, diese Emotionen in tröstende Wortbilder zu fassen. An einer Stelle erklärt er etwa: «Ich erzähle meinen Enkelinnen die Geschichte, dass ich schwer krank bin und bald sterben werde. Aber der Abschied tut weh, auch ihnen. Aber ein Trost ist: Auf der anderen Seite sind alles Willkommene, da werde auch ich willkommen sein. Dort warte ich viele Jahre. Und wenn ihr kommt, kann ich euch umarmen und ihr seid bei mir willkommen.»
Während der Dreharbeiten starb auch Heidi Schmids eigene Mutter. «Mir hat die Arbeit mit Röbi damals sehr geholfen, mit der Situation umzugehen. Vielleicht finden andere Menschen in seinen Worten ebenfalls Trost.» Dennoch sieht sie den Film auch kritisch. Nicht jeder könne darauf vertrauen, einen schönen und friedlichen Tod zu sterben. Zugleich hätten die vielen Gespräche nach den Filmvorführungen gezeigt, dass Direktbetroffene sowie deren Angehörige sich vom Film trösten und inspirieren lassen könnten.
«Röbi ist das Beste, was mir hätte passieren können!»
«Dass Röbi so gut sterben konnte», sagt Labhart, «hat sicher auch damit zu tun, dass er sich so stark sozial engagiert hat. Selbst im Sterbeprozess hatte er einen Draht zur versehrten Welt um ihn her.»
Röbi starb, bevor er den fertigen Film sehen konnte. Labhart und Schmid zeigten bei seiner Trauerfeier einen zehnminütigen Ausschnitt. «Das war das erste Mal, dass sich seine Angehörigen etwas unter dem Projekt vorstellen konnten», sagt Heidi Schmid. «Viele, die bis dahin immer noch skeptisch gewesen waren, überzeugte dann der kurze Ausschnitt vom Projekt.»
Der grösste Fan des Films sei bis heute Heidi Widmer-Demuth, Röbis Witwe. Als sie den Film zum ersten Mal in voller Länge sah, hatte sie nichts zu bemängeln – bis auf einen Satz, der beim Schneiden rausgefallen war. Den wünschte sie sich noch in den Film: «Röbi ist das Beste, was mir hätte passieren können!»
Das Buch «Komm durch die offene Tür» kann auf der Webseite www.roebigeht.ch bestellt werden. Auf der Webseite ist ausserdem der Link zu den Streaming-Plattformen, auf denen «Röbi geht» geschaut werden kann.
«Röbi geht» wird an den kommenden Solothurner Filmtagen gezeigt. Am Samstag, 20. Januar, 9.30 Uhr im Landhaus, mit einem Gespräch nach dem Film und am Dienstag, 23. Januar, 12 Uhr im Kino Uferbau, ohne Gespräch.
Ein Film über das Sterben – und über das volle Leben