Ein gefährliches Game, aber in der realen Welt
Das Buch wirkt unmittelbar. Seine Illustrationen fassen die Ereignisse in klare Bilder. Die in Sprechblasen gepackten Kommentare der fünf Protagonisten Hamid, Muhammed, Ziya, Nima und Afsaneh erscheinen direkt und unverfälscht. Man kann die dokumentarische Graphic Novel «Games – auf den Spuren der Flüchtenden aus Afghanistan» von Patrick Oberholzer in zwei Stunden durchlesen und erfährt viel: Die Fluchtgeschichten dieser fünf Personen aus Afghanistan führen über den Iran in die Türkei und von dort aus über den Landweg oder das Meer nach Europa und schliesslich in die Schweiz.
Es sind Geschichten voller Entbehrungen, Gefahren und Leid. Von Familien, die auseinandergerissen werden, von Menschen, die auf der Flucht Mitreisende sterben sehen und selber nur knapp überleben. Als der erst 14-jährige Hamid alleine in der Türkei ankommt, wird er für die kommenden anderthalb Jahre sechs Tage pro Woche und zwölf Stunden pro Tag Schuhsohlen herstellen, um den nächsten Schlepper bezahlen zu können. Afsaneh, die einzige Frau in dem Buch, riskiert die Flucht schwanger an der Seite ihres gewalttätigen Ehemannes.
Ein gefährliches Game
Alle Flüchtenden müssen über eine oder mehrere Grenzen. Die Versuche, über eine Grenze zu gelangen, nennt man «Games». «Man kann ein Game gewinnen, aber auch verlieren. Manche Leute brauchen zwanzig oder vierzig Games, um es zu schaffen», sagt Ziya, der in Pakistan über die Berge flüchten musste, um in den Iran zu gelangen.
Neben den persönlichen Schicksalen informiert das Buch auch darüber, wie Schlepper arbeiten, und über die monetären Systeme, die dahinterstecken. Es zeichnet Fluchtrouten nach und informiert über die politische Lage in den betreffenden Ländern. Statistiken belegen, dass Frauen nur 10 Prozent der Geflüchteten ausmachen. Neben schlechten Startbedingungen sind Frauen, Kinder und Menschen mit Beeinträchtigungen stark gefährdet, auf der Flucht Menschenhandel und sexuellen Übergriffen zum Opfer zu fallen. Und es zeigt auch auf, welche Verfahren die Geflüchteten in den Zielländern erwarten, um bleiben zu können.
Die Idee zum Buch entstand, als Patrick Oberholzer einen jungen Afghanen kennenlernte, der ihm von seiner Flucht erzählte. «Seine Geschichte berührte mich, und ich fasste den Entschluss, Leuten wie ihm eine Stimme zu geben, ihre Erlebnisse in Bilder zu fassen.» Über Anfragen beim Sozialamt meldeten sich fünf Personen, die sich als Interviewpartner für das Projekt zur Verfügung stellten. «Wir haben stundenlange Gespräche geführt. Es ist mir nahegegangen, was die Leute erzählt haben. Sie sind auch noch nach Jahren von ihren Geschichten gezeichnet.»
Die Idee, eine Graphic Novel zu verfassen, hat schon lange in dem begabten Zeichner geschlummert. «Ich bin mit ‹Asterix› und ‹Tim und Struppi› gross geworden, Comics haben mich schon immer fasziniert.» Der Künstler ist in Neunkirch aufgewachsen und hat nach der Matura an der Kunsthochschule Zürich den Studiengang Graphic Design belegt. Nach fünf Jahren in einer Zürcher Werbeagentur hat er erfolgreich den Sprung in die Selbstständigkeit gewagt.
Bilder erleichtern den Zugang zum Thema Flucht
Eine Graphic Novel ist ein Werk mit vielen Bildern, das als Gesamtwerk funktioniert. Anders als ein Comic, das oft in Serien erscheint. Von der ersten Bleistiftskizze bis zur definitiven Farbzeichnung sind viele Arbeitsschritte notwendig. «Zunächst ist meinen Interviewpartnern abstrakt erschienen, dass ich zeichnen will, was sie erzählen. Doch als sie erste Skizzen gesehen haben, zum Beispiel von der Flucht über die Berge, hat das viel in ihnen ausgelöst.»
Patrick Oberholzer wünscht sich für seine Graphic Novel ein breites Publikum. «Ich denke an Leute, die in einem Buchladen darauf stossen und sich von den Bildern angesprochen fühlen.» Das Buch soll einen niederschwelligen Zugang zum Thema Flucht bieten. «Nur wenige haben Berührungspunkte mit dem Thema. Die Bilder erleichtern den Einstieg, und man ist eher bereit, sich darauf einzulassen.»
Er ermutigt Erwachsene, in die Welt der Graphic Novels und Comics einzutauchen. «Es gibt viele tolle Comics für Erwachsene, das sind sehr schöne Bücher mit spannenden Inhalten, zum Beispiel zur Geschichte. Ich empfehle allen, einmal durch einen Comicladen in Winterthur oder Zürich zu streifen. Ich selber entdecke die Welt der Comics auch grade wieder neu.»
Nominiert für Jugendliteraturpreis
Der Splitter-Verlag verlegt das Buch in der Schweiz, in Deutschland und in Österreich. Inzwischen steht «Games» vor der dritten Auflage und ist für den «Deutschen Jugendliteraturpreis 2024» nominiert, der im Oktober verliehen wird. Nach weiteren Projekten gefragt, denkt Patrick Oberholzer erst einmal nach. «Das steht noch nicht ganz fest. Ich bin jemand, der ein Ziel braucht, eine Mission. Das war bei ‹Games› der Fall, ich habe dadurch eine neue Perspektive auf das Leben gewonnen.»
Games, Patrick Oberholzer
2023, Splitter Verlag
Nominiert für den deutschen Jugendliteraturpreis 2024.
Ein gefährliches Game, aber in der realen Welt