Ein Gottesdienst aus dem 17. Jahrhundert in die heutige Zeit katapultiert
Ein Gottesdienst wie im 17. Jahrhundert – da stellt man sich als Erstes stundenlanges Zuhören auf der harten Kirchenbank vor. Ist das so?
Olivier Schopfer: Eine Stunde lang sitzen ist optimistisch, ich würde eher sagen: zweieinhalb Stunden. Die Predigt selber geht schon zwei Stunden. Man muss sich vorstellen, dass man damals Zeit hatte, im Gottesdienst zu sitzen. Das war auch ein Ort, an dem man mit anderen Leuten Informationen austauschen konnte. Man hatte auch nach dem Gottesdienst Zeit für Gespräche zwischen Familien. Es war ein sehr wichtiger Punkt im Leben, bei dem sich jeweils die ganze Gemeinschaft traf.
Sie werden am 1. Oktober eine Predigt halten, die ursprünglich am 25. März 1688 in der Französischen Kirche gehalten wurde. Wer hat sie verfasst?
Es war eine besondere Veranstaltung, weil extra ein Pfarrer aus dem Waadtland gekommen war, und zwar aus Coppet am Genfersee. Er hat diese Predigt gehalten. Der Pfarrer hiess Pierre-François Olivier. Sein Nachname ist also lustigerweise mein Vorname. Das Interessante an der Predigt ist, dass sie tatsächlich hier gehalten wurde. Später kam sie in Druck und existiert noch heute als Büchlein. Einige Exemplare davon sind noch erhalten.
Mehrere noch heute aktive Hugenottenkirchen in der Schweiz
Die französische Kirche in Bern feiert heuer ihr 400-jähriges Bestehen. Gegründet wurde sie von einem Hugenotten. Die Hugenotten wurden in Frankreich im 16. und 17. Jahrhundert wegen ihres reformierten Glaubens verfolgt. Sie gelangten als Flüchtlinge in die Schweiz, wo sich ein Teil dauerhaft niederliess. Auch in Basel, St. Gallen, Zürich, Luzern, Aarau, Baden und in weiteren Orten im Kanton Aargau gibt es Kirchen mit demselben Ursprung. Auch sie existieren noch heute.
Worum geht es in der Predigt?
Es ist eine Predigt über einen Vers aus dem Korintherbrief. Es geht um Sportler und um «le régime et la couronne des luteurs». «Régime» bezeichnet nicht wie heute nur die Diät, sondern den ganzen Lebensstil von Sportlern. Es geht darum, wie Kämpfer leben, um sich auf den Sport vorzubereiten. Couronne, die Lorbeerkrone, steht für den Sieg, den sie erringen wollen. Das einzige Ziel des Sportlers ist, sich mit seinem Lebensstil darauf vorzubereiten, die Lorbeerkrone zu gewinnen. Der Apostel Paulus nutzt dieses Bild, um das Leben der Christen darzustellen, die sich während ihres Lebens auf den Gewinn der Lorbeerkrone vorbereiten. Zwar ist die Krone, die sie am Ende gewinnen, verderblich. Aber wenn wir Christen dranbleiben, gewinnen wir eine Krone, die unsterblich ist: das ewige Leben. Pierre-François Olivier kommentiert dieses Thema ausführlich in allen möglichen Formen, mit ganz vielen interessanten Beispielen und in einer wunderbaren Sprache.
Treten in dieser Predigt gegenüber heute theologische Unterschiede zu Tage?
Was man bei dieser Predigt merkt, ist, dass sie mehr als ein Jahrhundert nach der Reformation geschrieben wurde. Die Begeisterung an der Wiederentdeckung des Wortes Gottes in der Bibel ist schon nicht mehr im Zentrum. Das Thema der Gnade Gottes, die man nicht durch die eigenen Taten verdient, sondern ausschliesslich von Jesus Christus kommt, steht nicht mehr im Vordergrund. Der Kontext ist ja anders: Die vielen protestantischen, also hugenottischen Flüchtlinge, die aus Frankreich weggehen mussten mit all ihrem Hab und Gut und unter anderem in Bern Asyl fanden. Sie waren in einer Situation, in der es ums Überleben mit seinem Glauben ging. Man musste sich einen neuen Ort suchen, weil man den Glauben nicht aufgeben wollte. In Frankreich hatte man die Wahl, zum Katholizismus überzutreten oder das Land heimlich zu verlassen. Man lebte in der Gefahr, gefangen genommen oder getötet zu werden – oder auf den Galeeren sein Leben bis zum Tod zu verbringen. Das Thema der Predigt ist dementsprechend: Dranbleiben! Dranbleiben mit Mut. Das wird immer wieder betont.
Wird man die Predigt als heutige Person verstehen können?
Wir haben den Text in einem etwas modernisierten Französisch abgeschrieben. Das heisst, wir haben das Imperfekt so geändert, dass man es in unserer modernen französischen Sprache versteht. Die Struktur der Sätze haben wir aber nicht geändert. Daneben gibt es wenig, das man erklären muss, damit man es richtig versteht. Etwa den Begriff «régime».
Werden die Leute auch Erklärungen zum historischen Kontext des Gottesdienstes bekommen?
Ja, wir werden am Anfang eine kurze Einführung machen und ein Blatt mit ein paar Erklärungen abgeben.
Kann man sich irgendwie vorbereiten?
Man muss verstehen, dass man damals mehr Zeit hatte als heute, und sich entsprechend darauf einstellen, dass es dauert. Aber eigentlich ist es ganz angenehm zum Zuhören. Wir haben die Hälfte der Predigt bereits getestet. Sie ist spannend.
Wir haben auch vor, eine Kaffeepause mitten im Gottesdienst zu machen, obwohl das etwas ist, was man seinerzeit nicht gemacht hätte. Allerdings hat auch schon damals manchmal die Natur gerufen. Zwischendurch hinauszugehen war damals offenbar durchaus üblich.
Neben der Predigt gibt es heute noch andere liturgische Elemente, die Auflockerung bringen. Wie stand es im 17. Jahrhundert etwa mit Musik im Gottesdienst?
Musik gab es zur Begleitung der Psalmen. Man hatte damals keine anderen Lieder als die Texte der biblischen Psalmen mit neuer Musik. Damals sang man aus dem sogenannten Genfer Psalter, das werden wir gleich halten. Es gab zu dieser Zeit keine Orgel. Die Orgeln wurden nach der Reformation aus den Kirchen entfernt, weil man der Meinung war, dass es etwas Einfacheres brauchte. Aber zur Gesangsbegleitung hatte man Blasinstrumente. Wir werden auch Blasinstrumente haben, damit man erleben kann, wie die Lieder damals begleitet worden sind. Das Ensemble für alte Musik «Il Desiderio» wird auf alten Instrumenten spielen.
Die Hugenotten in Bern
Die Berner hätten den aus ihrer Heimat geflüchteten Hugenotten grosszügig geholfen, sagt Olivier Schopfer, Pfarrer der Französischen Kirche in Bern. Trotzdem hätten sie alles getan, dass sie sich nicht auf Dauer etablierten und vor allem nicht einbürgerten. «Angesichts der vielen Flüchtlinge, von denen manche adelig und auch sehr kultiviert waren, wollten die Berner nicht, dass sie dablieben. Die Obrigkeit sah sie als Konkurrenz», sagt Schopfer. Das erklärt auch eine mahnende Passage am Ende der Predigt des Waadtländers Pfarrers Jean-François Olivier von 1688, die sich an die Berner Obrigkeit richtet. «Es wird ganz subtil suggeriert, dass sie sich um die Flüchtlinge bemühen sollen», so Schopfer.
Die bernische Politik ging allerdings nicht auf: «Sie bewirkte, dass nur jene Hugenotten blieben, die sich den weiten Weg an einen anderen Ort, an dem sie willkommen waren, nicht leisten konnten.» Diese Hugenotten seien für Generationen geblieben. «Sie mussten dauernd unterstützt werden, weil sie weniger Mittel hatten und sich nicht integrieren konnten.»
Sah so ein Gottesdienst auch optisch anders aus, als man es aktuell kennt? Hatte man etwa liturgische Gegenstände, die man heute nicht mehr braucht?
Liturgische Gegenstände auf keinen Fall. Nach dem Bildersturm gestaltete man alles sehr schlicht und einfach. Die mittelalterlichen Malereien, die man heute in der französischen Kirche sieht, wurden während der Reformation überdeckt.
Die Kirche war zudem anders organisiert, und zwar so, wie man es noch im Berner Münster sieht: Die Kanzel stand in der Mitte, die Bänke gruppierten sich darum herum. Das Wort stand ja im Zentrum, nicht das Abendmahl, das nur ein paar Mal im Jahr gefeiert wurde.
Werden Sie das im Gottesdienst in der französischen Kirche irgendwie nachstellen?
Nein, das können wir wegen der Bänke nicht machen. Man muss sich einfach vorstellen, wie es damals war. Wir haben auch einen grossen Abendmahlstisch. Im 17. Jahrhundert gab es vielleicht ein Tischlein, aber nichts Grosses. Auf keinen Fall durfte es etwas sein, das an einen katholischen Altar erinnerte!
Und wie sahen die Gewänder aus?
Die Gewänder waren grundsätzlich einfach, aber das 17. Jahrhundert war auch die Zeit, in der man anfing, sich schick zu kleiden, auch die Perücken kamen auf. Es kann sein, dass der Pfarrer damals eine Perücke trug oder lange Haare. Wir haben Bilder vom Talar, der Schulterpolster hatte, damit die Schultern breiter aussahen. Das Beffchen, also die weisse Halsbinde zur Amtstracht, war ziemlich gross. Ansonsten aber sieht der Talar ähnlich aus wie heute.
Werden Sie einen solchen Talar und eine Perücke tragen?
Wir hoffen es, aber ich kann es nicht garantieren. Wir versuchen, vom Theater Gewänder zu bekommen. Wenn nicht, zeigen wir ein historisches Bild, ich trage meinen üblichen Talar, und die Leute müssen es sich vorstellen.
Kommen wir zu den Quellen: Wie haben Sie diese Nachbildung eines historischen Gottesdienstes erarbeitet?
Wir haben mit einer Gruppe von Leuten aus der Gemeinde und Historikern zusammengearbeitet und sind noch dran, weitere Quellen zu finden. Ein Handbuch hilft uns sehr: «Die kirchlichen Gebete und die Art und Weise, den Gottesdienst zu feiern». Es wurde fast zur gleichen Zeit von der Berner Regierung für die Waadtländer, über deren Gebiet sie zu der Zeit herrschten, in französischer Sprache verfasst. Die Berner waren Anhänger des Reformators Huldrych Zwingli. Das Handbuch ist aber deutlich calvinistisch geprägt und entspricht damit den Hugenotten, welche sich auf den Reformator Johannes Calvin beriefen.
Ganz originalgetreu wird es aber wahrscheinlich nicht gehen.
Dass es nicht ganz so sein wird, wie es war, ist klar. Vieles weiss man nicht. Ein paar wenige schriftliche Berichte überliefern, wie die Gottesdienste gefeiert wurden. Und es gibt alte bildliche Darstellungen, die jedoch später entstanden sind. Aber wir haben keine Fotos, keine Videos, keinen Ton. Deshalb kann man sich die damalige Wirklichkeit nur teilweise vorstellen. Unsere Idee ist, dass man im Gottesdienst ein Gespür dafür bekommt, wie es war. Haargenaue Authentizität ist weniger wichtig.
Nun ist das Ganze zwar eine historische Nachbildung, aber trotzdem auch ein Gottesdienst. Was bedeutet das für Sie und Ihre Hörerschaft?
Es bedeutet, sich in eine andere Zeit zu versetzen. Man muss versuchen zu verstehen, welche Thematik damals in der Luft lag. Im Gottedienst wird auch deutlich, dass wir Erben einer langen Tradition sind, auch wenn sich vieles geändert hat. Ich finde, dieser Gottesdienst vermittelt einen ernsten Eindruck. Die Predigt hat etwas ziemlich Moralisierendes. Meine heutigen Predigten sehen ziemlich anders aus. Wir leiden nicht mehr unter Verfolgung, sondern unter Entmutigung. Aus meiner Sicht brauchen Menschen heute eine Botschaft der Hoffnung.
Zum Schluss: Zweieinhalb Stunden predigen – macht Ihnen das Angst?
Also den Testlauf mit der halben Predigt habe ich gut überstanden, aber ich glaube, dass man dann schon eine kleine Pause braucht. Aber ja, es ist machbar. Heute hat man auch eine Tonanlage. Ich werde von diesem Vorteil profitieren.
Das sagt viel über das Lungenvolumen damaliger Pfarrer aus…
Ja, aber es erklärt auch, warum man damals mit einigem Pathos reden musste. Sonst drang man gar nicht durch. Es erklärt auch, warum man das Gesagte auf so viele Arten wiederholen musste. Weil es beim ersten und zweiten Mal vielleicht nicht alle Leute gehört hatten.
400 Jahre französische Kirche in Bern: Ein Gottesdienst wie anno dazumal
Am Sonntag, 1. Oktober 2023, 10 bis 13 Uhr, gibt es in der Französichen Kirche in Bern einen Gottesdienst mit einer Predigt, die am 25. März 1688 ebenda gehalten wurde – mit Pfarrer Olivier Schopfer, dem Bläserensemble «il desiderio» unter der Leitung von Hans-Jakob Bollinger, Antonio García, Kantor. Die Transkription der Predigt in modernes Französisch übernahm Catrine Burdet.
Ein Gottesdienst aus dem 17. Jahrhundert in die heutige Zeit katapultiert