Ein Leben zwischen Herausforderung und Dankbarkeit
Sie sprechen über Gott, aber auch mal über Philosophie oder Politik. «Jörg ist einer meiner liebsten Gesprächs- und Sparringspartner», sagt Roland Mathys. Der 63-Jährige sitzt in seinem Zimmer im Pflegezentrum Baar. Mit ihm am Tisch ist Jörg Leutwyler. Er ist Seelsorger im Zuger Kantonsspital und im Pflegezentrum Baar. Regelmässig besucht er Roland Mathys. Manchmal nach Termin, manchmal auch spontan oder einfach dann, wenn er gebraucht wird. «Wenn ich weiss, dass er kommt, schreibe ich eine Liste mit Themen, die ich mit ihm besprechen möchte. Aber meistens geht es nach den ersten beiden Sätzen um etwas ganz anderes», sagt Roland Mathys und lacht.
Tiefgründige Gespräche
Lachen, Humor ist ein wichtiger Teil der Gespräche. «Wir haben tiefgründige Gespräche, lachen aber auch viel, das schätze ich», so Mathys. Der gebürtige Berner ist allgemein dankbar. Und das, obwohl sein Leben von mehreren Schicksalsschlägen gezeichnet ist.
2001 bekommt er die Diagnose MS. Die Krankheit verschlechtert sich schleichend und zwingt ihn schlussendlich 2011 in den Rollstuhl. Trotz Unterstützung durch die Spitex kann er irgendwann nicht mehr zu Hause leben. Im Pflegezentrum Baar findet er 2018 sein neues Zuhause. Hier fühlt er sich wohl. Sein Zimmer verlässt er so gut wie nie. Die körperlichen und psychischen Belastungen seien für Aktivitäten ausserhalb der gewohnten Umgebung oft zu hoch, sagt Mathys. Aber er fühlt sich wohl. Besuch hat er oft von seiner Frau Gerlinde. Die 62-Jährige lebt nach mehreren Hirnschlägen seit einer Weile auch im Pflegezentrum, in einem anderen Zimmer. Trotz der schwierigen Umstände fühlen sich beide gut betreut und sind dankbar.
Dankbarkeit und Glaube
Dankbarkeit spielt in Roland Mathys’ Leben eine grosse Rolle. Er ist dankbar für die 40 Jahre, die er gesund leben konnte. Und er versucht, immer beide Seiten der Medaille zu sehen. Ein Beispiel: «Wenn ich wieder eine neue Spastik habe, könnte ich mich aufregen, aber dann merke ich, dass dadurch eine Lageänderung möglich wird, dann bin ich dankbar dafür.» Ein zentraler Aspekt in seinem Leben ist sein Glaube. Als reformierter Christ, geprägt von seiner Mutter, die Kirchenrätin war, hat er eine tiefe Verbindung zur Spiritualität und zum Glauben entwickelt. Die Krankheit und die intensive Auseinandersetzung mit seinem Glauben haben Roland verändert. Er beschreibt sich heute als offener und emotionaler: «Ich bin dünnhäutiger geworden und kann meine Emotionen mehr zulassen und zeigen.»
Diese neue Offenheit erstreckt sich auch auf seinen Glauben. Während er früher seine Überzeugungen eher für sich behielt, geht er heute offen damit um und hat einen direkteren Zugang zu religiösen und spirituellen Themen gefunden. Unter anderem auch dank der Seelsorgegespräche mit Jörg Leutwyler.
Nachgfragt Jörg Leutwyler: «Ich bin ontologisch Pessimist und alltäglich Optimist»
Jörg Leutwyler ist Seelsorger im Zuger Kantonsspital und im Pflegezentrum Baar. Er spricht über die Bedeutung von Mitmenschlichkeit und Humor und reflektiert über die Herausforderungen und Freuden seiner Berufung.
Jörg Leutwyler, wie unterscheidet sich Ihre Arbeit als Seelsorger in einem Spital von der in einem Pflegezentrum?
Im Spital mache ich eher Kurzzeitbetreuung, da die meisten Menschen nur ein paar Tage dort sind. Manchmal sind die Patienten sogar enttäuscht, wenn ich komme und nicht der Arzt bin (lacht). Im Pflegezentrum hingegen bauen wir langjährige Beziehungen auf. Die Patienten bleiben im Durchschnitt 3,5 bis 4 Jahre. Was die Arbeit im Pflegezentrum sehr emotional macht: Wir bauen eine Beziehung auf, und die Menschen sterben: Es ist manchmal sehr traurig.
Welche Rolle spielt Spiritualität in Ihrer Arbeit?
Spiritualität ist ein grosser Begriff mit wahrscheinlich über hundert Definitionen. Ich würde eher sagen: Mitmenschlichkeit, zuhören, respektvoll zuhören, ernst nehmen – das ist das Wichtigste. Zusammen beten. Das heisst für mich, spirituell zu sein.
Wie gehen Sie mit der emotionalen Belastung um, die Ihre Arbeit mit sich bringt?
Ich kenne keine emotionale Belastung. Ich denke, ich bin wirklich für diese Arbeit gemacht. Am Abend, wenn ich nach Hause gehe, ist meine Arbeit fertig. Die Trennung «es ist nicht mein Leben» ist wichtig. Natürlich prägt es. Meine Persönlichkeit hat sich wahrscheinlich schon in den letzten 20 Jahren verändert: Ich bin nachdenklicher und fürsorglicher geworden.
Gibt es Momente oder Erfahrungen in Ihrer Arbeit, die Ihren eigenen Glauben herausfordern?
Nein. Ich persönlich bin ontologisch Pessimist und alltäglich Optimist. Ich erwarte nichts anderes, als dass am Ende des Lebens oder auch mitten im Leben das Sterben kommt. Laut Heidegger ist es übrigens der Tod, der uns zum Menschen macht. Meine Hoffnung ist immer, dass nicht alles umsonst war. Und das ist eine Glaubensfrage.
Welche Bedeutung hat Humor in Ihrer Arbeit als Seelsorger?
Humor ist sehr wichtig. Ich benutze oft und gern Zeichnungen von Rabenau und schicke Patienten Sprüche und Witze per WhatsApp. Über existenzielle Probleme zu reden, ist für viele Menschen eine grosse Herausforderung und kann eine Hürde sein. Mit Humor kann man diese meistens überwinden.
Welche Rolle spielt die Seelsorge in der oft als säkular wahrgenommenen Gesellschaft?
Die Spital- und Heimseelsorge ist schon an und für sich säkular. Sie ist Treffpunkt: Durch sie geht die Kirche auf die gesamte Gesellschaft zu. Gäbe es die Spital- und Heimseelsorge nicht mehr, würde die Kirche viel an Sichtbarkeit verlieren.
Ein Leben zwischen Herausforderung und Dankbarkeit