Ein Ort, an dem man einander zuhört
Nicole Russenberger sitzt in der NACHBAR in der Stahlgiesserei Schaffhausen an einem langen Holztisch mit vielen Stühlen. Der Raum wirkt einladend. Es gibt kleine Sitzgruppen, eine schöne Bar und ein Klavier. Am 15. März beherbergt er das erste öffentliche «Erzählcafé» zum Thema «Neuanfänge».
Zuhören obligatorisch, erzählen erlaubt
«Ein Erzählcafé ist ein Ort, an dem man voneinander Geschichten hört. Menschen, die sich fremd sind, treffen sich in einer Runde, um zu einem bestimmten Thema zu erzählen», erklärt die Sozialdiakonin und ausgebildete Erzählcafé-Moderatorin. «Eine wichtige Kompetenz bildet auch das Zuhören. Man ist ja in der Regel immer schnell im Antworten oder Bewerten. «Im Erzählcafé hingegen geben wir den Geschichten Raum. Richtig zuhören kann sehr berührend sein.»
«Zuhören ist obligatorisch, erzählen ist erlaubt.»: So lautet der Leitsatz der Erzählcafés. Das bedeutet, dass man erzählen darf, aber nicht muss. «Man kann auch teilnehmen, wenn man nicht erzählen möchte, und sich rein beim Zuhören bewegen lassen von dem, was andere erzählen.»
Alle, die erzählen möchten, sollen zum Zug kommen. «Es gibt Spielregeln: Wir fallen einander nicht ins Wort und kommentieren nicht, was jemand erzählt. Wir bewerten das auch nicht, sondern gehen respektvoll und wertschätzend miteinander um.» Die Moderatorin hat die Aufgabe, die Gesprächsrunde zu lenken. «Das ist nicht immer einfach, und manchmal muss man eingreifen. Aber in der Regel entwickelt sich eine gute Dynamik.»
Nicole Russenberger sieht im Erzählcafé einen gesellschaftlichen Auftrag. «Menschen kommen zusammen, erzählen und hören einander zu, das fördert die gegenseitige Wertschätzung und gleichzeitig auch das Selbstvertrauen. Jede Person kann mit seinen Lebenserfahrungen etwas beitragen, von dem andere lernen können.»
Erzählcafés und fürsorgerische Zwangsmassnahmen
Erste Erfahrungen mit Erzählcafés sammelte die Fachfrau im Rahmen von Gruppentreffen mit Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen. Seit einem Jahr begleitet sie eine Selbsthilfegruppe, welche die Kantonalkirche unterstützt. Bis 1981 wurden in der Schweiz Kinder fremdplatziert. Behörden entschieden ohne Gerichtsurteil, wer seine Kinder behalten durfte und wer nicht. Kinder und Jugendliche wurden als Arbeitskräfte auf Bauernhöfe verdingt, in Pflegefamilien gegeben, in Heime gesteckt und hinter Anstaltsmauern weggeschlossen. Betroffen sind bis heute mehrere 100'000 Menschen, viele von ihnen erlitten Gewalt und Missbrauch. Lange Jahre blieb dieses dunkle Kapitel der Schweizer Geschichte unter Verschluss.
Heute anerkennt der Bund das geschehene Unrecht, und Betroffene haben Anspruch auf einen Solidaritätsbeitrag. Zur Zeit arbeitet der Kanton Schaffhausen ein Dekret aus, das Opfern, die durch Schaffhauser Behörden fremdplatziert wurden, Anspruch auf einen kantonalen Solidaritätsbeitrag verschafft. Doch das Geschehene lässt sich nicht rückgängig machen. Und traumatische Erfahrungen wirken ein Leben lang nach – bis heute.
Grosses RedebedĂĽrfnis
Seit einem Jahr trifft sich die Selbsthilfegruppe in der NACHBAR. «Ich habe festgestellt, dass ein grosses Redebedürfnis besteht. So ist die Idee für Erzählcafés entstanden, die in diesem Rahmen stattfinden», so Russenberger. Und sieführt aus: «Viele der Betroffenen sagten am Anfang, dass die Geschichten schon lange verjährt seien und sie nicht mehr darüber sprechen müssten. Und genau diejenigen kommen nun regelmässig und reden gerne darüber.»
Erzählcafés gibt es an vielen Orten in der Schweiz, in Österreich und in Deutschland. Hinter der Idee steht der Verein Netzwerk Erzählcafé, der auch die Moderatorinnen und Moderatoren ausbildet. «Es gibt Erzählcafés zu den unterschiedlichsten Themen, auch interkulturelle», weiss Nicole Russenberger. «Es ist eine Gemeinschaft auf Zeit. Sie wirkt gegen die Einsamkeit und fördert den Zusammenhalt. Und manchmal entstehen auch weiterführende Kontakte aus solchen Treffen.» Verschiedene Generationen begegnen sich. «Das ist eine besondere Chance, wenn sich Junge und Ältere mit ihren Erfahrungen gegenseitig weiterhelfen.»
Nach den moderierten Gesprächsrunden ist jeweils Zeit für geselliges Beisammensein bei einem Imbiss. «Dieser Teil ist auch sehr wichtig. Manchmal bleibt man beim Thema, oder man redet über anderes. Aber der Austausch kann sich fortsetzen.»
Für das erste öffentliche Erzählcafé im März lädt die Sozialdiakonin in die Stahlgiesserei ein. «Alle sind willkommen! Ich bin gespannt auf viele Lebensgeschichten.»
Erzählcafé zum Thema «Neuanfänge», Samstag, 15. März, 10 bis 12 Uhr, NACHBAR, Haus B15 in der Stahlgiesserei, Schaffhausen. www.netzwerk-erzaehlcafé.ch
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Ein Ort, an dem man einander zuhört