Ein starker Film über das Sterben
Diese beängstigende Filmszene hat wohl schon jeder in seinem eigenen Kopfkino gesehen: Man sitzt einem Arzt oder einer Ärztin gegenüber und blickt in ernste Augen. Und dann teilt die Person im weissen Kittel mit, dass es nicht gut aussehe. Dass die Wahrscheinlichkeit gross sei, den Kampf gegen diese Krankheit zu verlieren und vielleicht schon bald.
Benjamin, gespielt von Benoit Magimel, ist 39, als Dr. Eddé (Gabriel Sara) ihm mitteilt, dass die Medizin nichts mehr gegen den Tumor in der Bauchspeicheldrüse unternehmen kann. Der Onkologe erzählt ihm noch etwas: Benjamins Mutter (Catherine Deneuve) sei schon dagewesen und habe ihn gebeten, Benjamin nicht die ganze Wahrheit zu sagen. Doch Dr. Eddé ist für die volle Wahrheit. Er sagt: «Die Wahrheit ist weniger beängstigend als Lügen.» Im ganzen Film wird er Klartext sprechen. Und was man nicht hören will, fühlt sich in seinen Worten plötzlich ganz richtig an.
«De son vivant», der neuste Film der Französin Emmanuelle Bercot, handelt vom Schmerz, gehen zu müssen und gehen zu lassen. Die Zuschauer begleiten Benjamin und seine Mutter ein Jahr lang, vom Frühling bis zum Frühling, und erleben das ganze Spektrum an Gefühlen mit, die Menschen in solchen Phasen erfassen: Schock, Schuldfragen, Angst, Bedauern, Aufräumen, Loslassen. Das Wissen, selbst vielleicht einmal diesen Weg gehen zu müssen, dürfte so manches Zuschauerherz zusätzlich aufwühlen.
Es gibt jedoch eine Ebene im Film, die man bisher selten so erlebt hat, und die alles erträglicher macht: Dr. Eddé und sein Team. Der Arzt verspricht Benjamin am Anfang, dass er mit ihm diesen Berg überquert und für seine bestmögliche Lebensqualität sorgt. Die Ärzte und Pflegenden der Onkologie-Abteilung haben den Ansatz der sogenannten Palliative Care fest in ihrem Arbeitsalltag integriert. Die Patienten können für die Chemotherapie gemeinsam mit den Ärzten und Pflegenden in einem Raum sitzen, während ein Paar zu sanften Klängen Tango tanzt. Der Musiker besucht jeden einzelnen Patienten auch in seinem Zimmer und spielt für ihn.
In der ganzen Station herrscht eine warme Aufmerksamkeit gegenüber den Kranken, am Spitalbett werden Gefühle angesprochen, Hände auf Hände gelegt und auch umarmt. Wöchentlich bespricht das Team seine Erlebnisse und die damit verbundenen Gefühle, jede Sitzung beenden sie mit einem gemeinsam gesungenen Lied mit Dr. Eddé an der Gitarre. Die Vorstellung, in einer solchen Station sterben zu dürfen, macht jene Fantasie, die man lieber verdrängt, um vieles leichter.
Wer nicht weiss, dass Gabriel Sara alias Dr. Eddé tatsächlich Onkologe in einem New Yorker Krankenhaus ist und die meisten Pflegenden im Film diesen Beruf auch real ausüben, dürfte das Geschehen im Filmkrankenhaus skeptisch beobachten und denken, dass eine solche Stimmung in der Realität kaum existiert. Doch tatsächlich hat Gabriel Sara, der aus dem Libanon stammt, einen modernen Palliative-Care-Ansatz in seinem Mount-Sinai-Spital etabliert. Mit Tango und viel Musik.
«De son vivant» mag punkto Erzählstränge manchmal etwas überladen sein, dennoch berührt er das Innerste. Und der Film lässt hoffen, dass man in jenem Moment im Leben, in dem man ganz allein ist, sich dennoch getragen fühlt.
Anouk Holthuizen, reformiert.info
Ein starker Film über das Sterben