«Eine Art Lebensschule»
«Vor allem der Ausgleich zwischen Musikmachen und Musikvermitteln liegt mir am Herzen», sagt der 40-jährige Oliver Rudin. «Das geht sehr gut in der Knabenkantorei Basel.» Als Vollblutmusiker leitet der verheiratete zweifache Familienvater neben der Knabenkantorei weitere Chöre in Basel und unterrichtet seit zwei Jahrzehnten als Lehrer am Gymnasium Kirschgarten Musik und Geschichte der Künste. «Ich habe in meiner Jugend die Chorschule der Knabenkantorei ebenfalls durchlaufen und nicht nur musikalisch profitiert», erklärt Rudin. «Ich erinnere mich gut, als ich als 9-Jähriger mit siebzig Buben und Jugendlichen gleich nach der Wende in St. Petersburg auf Konzertreise war. Chorsingen ist auch eine Art Lebensschule.»
Auf einer solchen Reise lerne man beispielsweise den respektvollen Umgang mit dem Unbekannten und Fremden. «Man übernachtet zu zweit oder zu dritt in Gastfamilien, die zwar einen Bezug zur Chormusik haben, deren Kultur sich hingegen oft von derjenigen zu Hause unterscheidet. Dazu gibt es sprachliche Hürden. Auf all dies muss man sich einlassen.» Spannend sei, dass man diese Reisen in verschiedenen Altersabschnitten unternimmt und der Austausch nicht selten über Jahre anhält. «Alle schwärmen später von diesen Erfahrungen, weil man die Kultur und die Länder nicht als Tourist, sondern völlig anders erleben durfte.» In Südafrika war Oliver Rudin als 16-Jähriger zuerst in einer reichen Familie mit viel Luxus und allen erdenklichen Sicherheitsmassnahmen untergebracht, danach lernte er die Lebensumstände einer armen Familie kennen. «Diese Gegensätze waren für mich eindrücklich und prägend.»
Lange Tradition
Heute dauert die Konzertreise je nach Destination zwischen sieben und zehn Tage. Die jüngeren Sänger im Alter von 9 bis 12 Jahren können dabei auf die sogenannten Chormütter zählen, die als Betreuerinnen mitreisen. Die älteren Sänger übernehmen jeweils Gruppenverantwortung. «Während einigen Tagen von zu Hause weg zu sein, ist für die jungen Sänger keine ungewohnte Situation. Jedes Jahr führen wir ein einwöchiges Herbstlager durch», sagt Rudin. «Und im Gegensatz zu früher gibt es heute Handy und E-Mail, um den Kontakt mit den Daheimgebliebenen zu halten. Die Verbindung ist enger als früher.» Seit über 90 Jahren treffen sich Buben und junge Männer zweimal pro Woche im Basler Bischofshof an der Rittergasse, um zu üben, zu proben und die kleinen und grossen Werke der Chorliteratur zu erarbeiten. Dass dies auch heute noch funktioniere, sei nicht selbstverständlich, konstatiert Oliver Rudin. «Es ist schon bemerkenswert, dass es junge Leute gibt, die freiwillig an einem Sonntagmorgen einen Gottesdienst besuchen, um zu singen.» Das Hobby Knabenkantorei ist sehr zeitintensiv – mehrmals pro Woche Proben und dazu die Konzertauftritte. Da müssten die Sänger und die Eltern der jungen Sänger einiges an Engagement aufbringen, so Rudin.
Die Knabenkantorei hat ein schwieriges Pandemiejahr hinter sich. Während dieser Zeit war es nicht möglich, sich als Gruppe zu treffen und zusammen zu singen. «Die Proben gingen ausschliesslich online über die Bühne, was nicht schön war», sagt Oliver Rudin. «Chorsingen hat eine hohe soziale Komponente – zum Singen muss man als Gruppe zusammen sein.» Nun sei es umso wichtiger, positiv in die Zukunft zu schauen. Die geplante Georgien- Reise der Knabenkantorei im Herbst 2022 gibt den benötigten Lichtblick.
Toni Schürmann
«Eine Art Lebensschule»