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Eine Frau lässt sich einschliessen

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12.04.2021
Sie war eine Frau der Extreme: Ein Jahrzehnt lebte die heilige Wiborada freiwillig in einer Zelle. Dank ihrer Vision bewahrte sie die Stadt St. Gallen vor dem Verlust des Klosterschatzes und der Stiftsbibliothek. Die Sozialarbeiterin Carola Zünd folgt der Einsiedlerin und lässt sich für eine Woche einschliessen.

Sie spricht gefasst und ruhig, wählt ihre Worte überlegt. Wenn die Sozialarbeiterin Carola Zünd von ihrer bevorstehenden Zeit in der Zelle erzählt, ist ihre Erfahrung mit innerer Einkehr spürbar. Vor der Woche in Einsamkeit habe sie keine Angst. Stille und Zeit mit sich allein – das sei ihr von den langjährigen Meditationen vertraut. Dennoch fügt sie lachend hinzu: Das blosse Sein sei schon Aufgabe genug.

Carola Zünd ist eine der zehn Frauen und Männer, die sich im Rahmen des Projekts «Wiborada 2021» einschliessen lassen. Vom 24. April bis 3. Juli 2021 leben sie für jeweils eine Woche in einer dafür angefertigten Holzzelle vor der Kirche St. Mangen in St. Gallen. Den «heutigen Wiboradas» stehen ein Bett, ein Stuhl, ein WC und ein Tisch zu Verfügung. Eingeschlossen auf drei mal fünf Meter, erhoffen die Inklusinnen und Inklusen dem Weg zu innerer Freiheit auf die Spur zu kommen.

In der Einsamkeit mitten im Leben
Der 2. Mai hat für St. Gallen eine besondere Bedeutung: Es ist der Todestag von Wiborada, der ersten vom Papst heiliggesprochenen Frau. Wiborada, althochdeutsch «Wiberat», «weibliche Rategeberin» lebte vor rund 1000 Jahren zurückgezogen in einer Zelle bei der Kirche St. Mangen. Die Inklusin beriet hohe politische und geistige Würdenträger durch ein Zellfenster.

Nach einer Probezeit fällte Wiborada den Entscheid, sich auf Lebzeiten in der Zelle einmauern zu lassen. Die Berufung der Einsiedlerin beschränkte sich nicht auf Rückzug. Vielmehr stellte sie ihr Leben in den Dienst für Gott und die Menschen in St. Gallen. Beten, beraten, trösten, heilen und singen – Wiborada entschied sich selber, wie sie leben wollte. Eine Eigenständigkeit, die damals nicht selbstverständlich war.

Im Jahr 926 fielen die Ungaren, wie von ihr vorausgesehen, in die Region ein. Dank ihrer Vision konnten der Klosterschatz und die Stiftsbibliothek in Sicherheit gebracht werden und blieben unangetastet. Die Märtyrin bezahlte ihren Mut mit dem Leben. Sie wurde von den Ungaren ermordet, weil sie sich weigerte, ihre Zelle zu verlassen. Zünd ist fasziniert vom radikal spirituellen Leben Wiboradas. «Die Frau war konsequent in ihrer inneren Einkehr. Dadurch konnte sie ihre Augen, Ohren und ihr Herz öffnen und war befähigt, auf die Fragen und Nöte dieser Welt eine Antwort zu geben.» Ihre Woche in der Zelle sei der Versuch sich dieser Frau ein wenig anzunähern.

Ausrichtung aufs Wesentliche
Stille und Leben in der Einfachheit sind vertraute Begriffe für Carola Zünd. «Ich habe erfahren, wie heilsam es sein kann, den Blick nach innen zu richten und nach dem Wesentlichen zu fragen. Die Sehnsucht nach mehr, nach einem Leben in Freiheit und Fülle führte mich zur Kontemplation.» In der Kontemplationsschule «via integralis» fand die St. Gallerin vor über zehn Jahren Heimat. Die Übung, in der Stille zu verweilen, habe sie durch eine schwere Krankheit getragen.

Zünds Kontakte sind während der Woche, die sie in der Zelle verbringt, auf ein Minimum beschränkt. Einmal am Tag erhält sie Besuch von Hildegard Aepli, der Initiantin des Projekts. Im Übrigen gestalte sie den Tag bewusst einfach: Aufstehen, meditieren und Körperübungen. Ob Einsamkeit ein Thema sein wird? Carola Zünd verneint. «Wenn ich bei mir bin, dann bin ich getragen.»

Wie zu Zeiten Wiboradas öffnet sie zweimal am Tag für je eine Stunde das Fenster für die Anliegen der Besucher. «Ich möchte den Besuchern mitgeben, dass es sich lohnt, regelmässig nach innen zu horchen und die Stille zu suchen. Die heutige Welt braucht Menschen, die in Verbundenheit mit ihrem Innern auf die Herausforderungen unserer Zeit antworten», sagt Zünd. Ausserdem segnet sie wie Wiborada Brot und verteilt dieses. Die Segnung könne Ansporn sein «zum achtsamen Genuss und zur Wertschätzung der Ressourcen unseres Planeten».

Selbstbestimmte Wiborada
Wiborada fiel schon als Kind durch ihre disziplinierte Lebensweise auf. Nach dem Tod ihres Vaters pflegte sie ihre Mutter. Von ihrem Bruder, dem Priester Hitto, eignete sie sich die geistliche Bildung an. Sie lebte asketisch und entsagte schon früh den weltlichen Freuden.

Ihre Freiheit fand sie schliesslich in der endgültigen Eingeschlossenheit. «Wiborada ermuntert uns, auf die eigene innere Stimme, die Herzensstimme zu hören. Und sich zu fragen, was eigentlich wichtig ist im Leben, um was es geht», sagt Carola Zünd. Die 54-Jährige möchte den Besuchern Vertrauen in den eigenen Weg mitgeben. Sie ist überzeugt: «Es braucht Wiboradas in der heutigen Zeit, Menschen, die der eigenen Berufung vertrauen.»

Michael Schäppi, kirchenbote-online

Übersicht über alle Veranstaltungen des vielfältigen ökumenischen Rahmenprogramms: www.wiborada2021.ch

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