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Einmal fragend um die Welt und zum Glauben zurück

von Marius Schären/reformiert.info
min
03.04.2023
Mit enger Verbindung zur Kirche ist er aufgewachsen, dann wurde Raphael Dorigo zum rationalen Bibelkritiker. Doch jetzt ist der Basler Sprachwissenschaftler zurückgekehrt zum Glauben – «nach Hause». Im Interview sagt er, warum.

Sie haben eine «intensive Reise» hinter sich, die Sie «über weite Strecken zurück zu Gott geführt hat», schreiben Sie. Was heisst das?

Raphael Dorigo: Zu Beginn des Jahres 2016 schien mein Glaube nach intensiver Suche unwiederbringlich verloren zu sein. Zugleich aber war für mich klar: Ich möchte die Wahrheit glauben, ganz gleich, wie sie aussieht – und wie sie wirklich aussieht, weiss ich nicht. Die Tür für Gott blieb also immer offen.

In meinem Blog «Scrutator» arbeitete ich damals alle Kritik am Glauben ab, die ich hatte. Ich glaube, dass das für meine Entwicklung wichtig war; ich wollte und musste all das angehen und mich von meinem kindlichen Glauben trennen, um als Mensch weiterwachsen zu können. Aber sich von Ballast zu trennen, ist ja nur ein Teil des Wachsens. Mir wurde klar, dass weise Kritik nicht nur auf Mängel hinweist, sondern auch das Wahre und Gute an einer Idee sucht und behält.

 

Und wo haben Sie das gefunden?

Durch etliche Denker und Wissenschaftler von Sokrates ĂĽber Jonathan Haidt bis zu Jordan Peterson wurde ich nach und nach wieder offener dafĂĽr, das Wahre und Gute an der Idee von Gott und den Inhalten der Bibel zu sehen. Ich wusste, dass sie ihren Wert hatten, und entdeckte die GrĂĽnde fĂĽr diesen Wert neu. Und ich fand neue Wege, Gott und die Bibel zu verstehen, die sich mit meinem kritischen Geist besser vereinbaren liessen.

 

Jetzt sind Sie also wieder gläubig?

Ob ich wieder gläubig bin oder Christ: Je nach Definition könnte ich diese Fragen bejahen oder verneinen. Ich weiss es nicht genau.

 

«Ob ich wieder gläubig bin oder Christ: Je nach Definition könnte ich diese Fragen bejahen oder verneinen.»

Raphael Dorigo

 

Wie fĂĽhlt sich Ihre RĂĽckkehr zum Glauben an?

Ich habe mich weitgehend mit meiner Vergangenheit versöhnt und damit auch wieder einen Schritt auf die Menschen zu gemacht, mit denen mich der Glaube verband. Ich fühle mich wieder verbundener mit den Wurzeln der Kultur, in der ich lebe. Und ich bin wieder fokussiert darauf, mich gemeinsam mit anderen mit der Herausforderung des Menschseins zu beschäftigen, im Denken und im Handeln – darin fühle ich mich als Denker und Mensch zuhause. In säkularer Philosophie und Wissenschaft allein konnte ich so ein Zuhause nicht finden.

 

Wie zeigt sich dieses Zuhause?

FĂĽr den Moment bin ich in die GrĂĽndung eines Hauskreises involviert und habe wieder angefangen, wie frĂĽher als Musiker in meiner Heimatgemeinde mitzuwirken.

 

Und was empfinden Sie an diesem Weg als besser?

Im säkularen Humanismus wird der Mensch primär als vernunftgesteuertes Wesen angesehen, das Informationen braucht. Die Religion sieht den Menschen eher als emotionsgesteuertes Wesen, das Hilfe braucht. Und Letzteres scheint mir nach intensiver beidseitiger Auseinandersetzung mit dem Thema die realitätsnähere, nützlichere Perspektive zu sein.

 

Warum realitätsnäher und nützlicher?

Ich meine, dass sich für alle Menschen zentral die Frage stellt, wie sie mit den Schwierigkeiten des Lebens fertigwerden. Auch wenn wir im wohlhabenden und behüteten Westen es manchmal vergessen: Diese herausfordernde Frage wird früher oder später für jeden Menschen ins Zentrum rücken, und für viele Menschen war und ist sie ständig im Zentrum. Daher ist dieser Fokus näher an der Realität. Und er ist nützlicher, da er dazu anstiftet, wahrlich Bedeutendes und zutiefst Wertvolles zu schaffen.

 

Wie wichtig ist Ihnen Wahrheit heute?

Machen wir es uns etwas schwieriger und fragen: Ist mir Wahrheit oder Wohlergehen wichtiger? Ich bin aktuell auf dem Stand, dass mir Wohlergehen wichtiger ist, als ĂĽbergeordnetes Ziel. Wahrheit ist aber in vielerlei Hinsicht eine Grundbedingung fĂĽr Wohlergehen. Wer sein Leben auf Unwahrheit aufbaut, baut sein Haus auf Sand.

Vielleicht ist es so: Unser Streben nach Wahrheit sollte demütig sein und im Dienste des Wohlergehens stehen. Die Bibel warnt zu Recht vor einem arroganten, ziellosen und destruktiven Verstand. Nur sollte uns das nicht dazu verleiten, unseren Verstand nicht mehr zu benutzen, nicht mehr kritisch nachzudenken, uns naiv die Welt schönzureden und unangenehme Wahrheiten zu verleugnen. Wir sollten nicht vergessen, dass wir beim Wahrheitsstreben kurzfristige Wohlergehens-Einbussen in Kauf nehmen sollten – dem langfristigen Wohlergehen zuliebe.

 

 «Nur sollte uns das nicht dazu verleiten, unseren Verstand nicht mehr zu benutzen, nicht mehr kritisch nachzudenken, uns naiv die Welt schönzureden und unangenehme Wahrheiten zu verleugnen.»

Raphael Dorigo

 

Die Bibel sei nichts weiter als ein «unbegründeter Behauptungskatalog» ist eine frühere Aussage von Ihnen. Wie stehen Sie heute dazu?

Dass sie «nichts weiter» als das sei, war eigentlich nie meine Ansicht. Ob die Behauptungen der Bibel unbegründet sind, hängt davon ab, wie man sie versteht. Und in dieser Hinsicht hat sich bei mir einiges geändert. Ich habe viele Behauptungen neu entdeckt und erkannt, dass an ihnen mehr dran ist, als ich gedacht hatte – besonders, was die menschliche Natur und sinnvolles Handeln als Mensch angeht. Gibt es auch unbegründete oder falsche Behauptungen in der Bibel? Das kann schon sein. Mein Fokus liegt jetzt allerdings darauf, ihr möglichst viel Gutes abzugewinnen, und davon gibt es eine ganze Menge.

 

Nennen Sie ein paar Beispiele von diesem Guten!

Die Bibel legt den Fokus darauf, dass wir vor unserer eigenen Tür kehren und uns einerseits als Kinder Gottes sehen – also als Wesen, die Wundervolles in die Welt bringen können – und andererseits unsere Unvollkommenheit im Blick behalten und danach streben, unser Potential immer mehr zu entfalten. Das finde ich eine sehr gesunde Haltung. Die Bibel sagt uns auch, dass uns das Höchste als Ideal und Ziel dienen sollte und dass wir nie der Illusion erliegen sollten, irgendetwas unter der Sonne stehe auf einer Stufe damit – das wäre gefährlich. Und sie sagt, dass wir mit dem Kern des Seins Frieden schliessen müssen, um das Leben meistern zu können, und dennoch auch mit ihm ringen dürfen. Das sind einige der Dinge, die ich erst jetzt so wirklich in der Bibel erkannt habe und die meiner Ansicht von enormem Wert sind.

 

Was bedeutet das Christentum heute fĂĽr Sie?

Das Christentum verstehe ich derzeit als einen Versuch, das Höchste und Beste zu erfassen – insofern das möglich ist – und die Menschen dazu zu bringen, in einer Beziehung damit zu leben und ihm nachzueifern. Und auch wenn es als menschliches Unterfangen immer seine Probleme haben wird, ist es in vielerlei Hinsicht ein guter Einfluss auf Einzelne und Gesellschaften, und diesen Erfolg sollte man keinesfalls unterschätzen.

In säkular-humanistischen Kreisen besteht die Vorstellung, man könne einen Ersatz für das Christentum schaffen, ohne die Probleme. Doch mit einem von Grund auf neuen Rezept etwas wirklich Besseres zu schaffen, wird nicht möglich sein – nur schon deswegen, weil die Menschen auch ohne Religion emotionsgesteuert sind, sich manchmal nicht von ihren Meinungen abbringen lassen oder falsche Entscheidungen treffen, die mehr Leid als Wohlergehen bringen.

 

Wünschen Sie sich immer noch, dass Menschen rationaler werden und vermehrt realitätsnahere Entscheidungen treffen?

Ich wünsche mir, dass die Menschen mit dem Leben gut zurechtkommen. Mein Fokus liegt nicht mehr auf Rationalität, sondern auf Weisheit. Rationalität und realitätsnahe Entscheidungen gehören sicher zur Weisheit dazu, sind aber nicht der Gipfel der Weisheit. Weisheit ist Kompetenz im Menschsein, und die erlangt man durch Überlieferung, durch Reflexion und Diskussion sowie durch Erfahrung.

 

Weise kann man aber doch unabhängig vom Glauben werden.

Die Menschen, deren Lebenseinstellung ich für erstrebenswert halte, sind ausgeglichen, authentisch gutherzig, demütig, haben ein Gespür dafür, was wirklich zählt, und Fähigkeiten, die wirklich zählen. Sie tragen handfest dazu bei, dass sie selbst und andere den Schwierigkeiten des Lebens besser trotzen können. Und solche Leute habe ich deutlich öfter unter Christen als unter Atheisten gesehen.

 

 

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