Einmischen statt Rückzug in den Elfenbeinturm
19. September 1946. Der Krieg lastet noch wie ein Alp auf den Menschen, als Winston Churchill seine Europarede in der Aula der Universität Zürich hält. Auf den Tag genau 71 Jahre später lässt der Theologe und Sozialethiker Hans Ruh in der Aula zur Buchvernissage seiner Autobiographie sein Leben Revue passieren. Ganz entscheidend für ihn waren die Erlebnisse des Zweiten Weltkriegs, den der kleine Hans, geboren im Jahr 1933 in Buchs SH, ganz nahe an der Schweizer Grenze erlebt hat.
Der Krieg hat Hans Ruh geprägt. Wenn auch der fromme Bub aus pietistischem Elternhaus als Doktorand von Karl Barth eine theologische Kehrtwende vollzog, eines liess ihm keine Ruhe: die christliche Feindesliebe, das Bekenntnis zum Pazifismus und zur Gewaltlosigkeit. Das ist an diesem Abend in der marmornen Aula zu spüren. Von Erwin Koller, dem früheren SRF-Moderator befragt, was für ein politisches Handeln er in der aktuellen Korea-Krise vorschlagen würde, antwortet Ruh: «Wir müssen dem Diktator Kim etwas anbieten, damit er sich aus seinem Mauseloch herauswagen kann.» Verhandeln ist seine Devise statt Vernichtungsdrohungen, wie sie Trump in der Uno ausgestossen hat.
Landpfarrer Moritz Leuenberger
Dass neben Hans Ruh auf dem Podium Judith Giovannelli-Blocher sitzt, ist kein Zufall. Als Nachbarn sind sie miteinander aufgewachsen. Ihr Bruder Gerhard war Hans Ruhs bester Jugendfreund. Geträumt haben die beiden in ihren jugendlichen Phantastereien, dass einer von ihnen Millionär, der andere Bundesrat werden sollte. Beides sollte dann der jüngere Bruder von Gerhard, Christoph Blocher, erreichen.
Blochers Bundesratskollege, Moritz Leuenberger, sitzt zur Rechten auf dem Podium. Er gibt auf Kollers Nachfrage denn auch seinen beruflichen Kindertraum zum Besten. «Ich wollte Landpfarrer werden», sagt er und umschreibt seine damalige Wunschvorstellung so: «Die ganze Woche Geissen hüten und dann am Sonntag zum Predigen auf die Kanzel.» Eines will Leuenberger aber klarstellen: Seine beruflichen Bubenträume seien weniger von seinem Vater geprägt, der später Theologie an der Universität dozierte. «Mein Vater war vor allem Lehrer. Ich habe das immer wieder klarstellen müssen, wenn Christoph Blocher und ich in einem Atemzug als die beiden Pfarrerssöhne zusammengebunden wurden.»
Moritz Leuenberger beauftragte Ruh, in einer Kommission die Regeln für ein Atomendlager zu definieren. «Ich habe gleich in der ersten Sitzung gesagt: Die Kommission organisieren wir wie ein Seminar.» Die Macht der Argumente sollte in einer zivilen Diskussion ohne Emotionen obsiegen und die Frage lösen: Soll der Atommüll für Millionen Jahre beerdigt oder so organisiert werden, dass er immer rückholbar ist? Die verschiedenen Interessenvertreter übten sich lange ganz brav im herrschaftsfreien Diskurs. Aber die Schlusssitzung endete im Chaos.
Mann der Praxis
Alt-Bundesrat Leuenberger hebt gerade dies hervor: Ruh wollte als Sozialethiker den Elfenbeinturm verlassen und in den Niederungen der politischen Praxis wirken. «Das schätze ich an Hans Ruh und dafür bin ich im dankbar», sagt er, dass er sich nicht der reinen Lehre der Gesinnungsethik verpflichtet gefühlt habe. Hans Ruh betont selbst: «Das Prophetische und Pragmatische, das Gesinnungsethische und Verantwortungsethische – diese Spannung sollten wir aushalten.»
Zwischen zwei Polen
Hans Ruh war immer einer, der seinen Platz zwischen diesen beiden Polen einnahm. Forderten die religiösen Sozialisten die Verstaatlichung der Grossindustrie und Banken, postulierte Ruh die gezähmte soziale Marktwirtschaft, reklamierten die kirchlichen Pazifisten ein Totalverbot der Waffenausfuhr, schlug Ruh als Leiter des Instituts für Theologie und Ethik des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes einen Kompromiss vor: In der Eidgenossenschaft produzierte Güter sollen nur an westliche Länder exportiert werden.
Aber zurück zum Podium. Hier würdigt Judith Giovanelli-Blocher ihren einstigen Spielkameraden Hans mit einem besonderen Lob. Eigentlich seien ja solche Autobiographien von alten Männern langweilig, weil sie oft das ganze Leben als eine Erfolgsgeschichte verkaufen wollten. «Aber bei dir ist daraus eine vergnügliche Lektüre geworden.» Denn Ruh zeige auch das Absurde des Lebens, seine Brüche. «Und man merkt dir an: Du bist von Dankbarkeit erfüllt, dass dir dieses Leben vergönnt war.» Dankbarkeit sei eben oft auch mit Bescheidenheit verbunden und manchmal mit einem Anflug von Demut, so Giovanelli-Blocher: «Das schätze ich an dir, Hans.»
Delf Bucher, reformiert.info, 21. September 2017
Einmischen statt Rückzug in den Elfenbeinturm