Einst Heiligtum, dann Freistatt, heute ein Sagenort
Der junge Mann rennt. Und rennt. Er atmet schwer. Noch zehn Meter, noch fĂĽnf, noch einen... Geschafft! Was er verbrochen hat, wissen wir nicht. Vielleicht hat er einen Hasen gewildert, damit seine Familie, die in bitterer Not lebt, zu essen hat. Oder einen Widersacher halb lahm geprĂĽgelt. Oder dem Landvogt eine freche Antwort gegeben.
Wie auch immer: Der Mann hat sein Ziel nun erreicht. Einen auffälligen, spitz zulaufenden Stein, der auf freiem Feld mannshoch aufragt. Er streckt die Hand aus, berührt den Stein – hier ist er sicher. Hier darf ihm nach ungeschriebenem Gesetz niemand ein Haar krümmen, auch dann nicht, wenn er ein Verbrecher ist. Denn der Stein ist eine sogenannte Freistatt.
Der Mann atmet noch immer schwer. Nun hört er Hufgetrappel. Sein Verfolger naht, der scharfe Galopp wirbelt auf dem trockenen Feld Staub auf. Es dauert höchstens ein paar Herzschläge, und schon sind Ross und Reiter beim Stein.
Der kriegsmässig gekleidete Reiter – es handelt sich um den Vogt vom Schloss Bipp im bernischen Oberaargau – lässt das Pferd anhalten, sitzt ab, nähert sich dem Mann beim Stein. Wird dieser den Verfolgten wirklich davor schützen, vom Vogt abgestochen zu werden?
Vom Rhonegletscher hinterlassen
Diese Szene ist frei erfunden. So oder ähnlich könnte sie sich dennoch zugetragen haben. Denn den Stein gibt es wirklich. Er ist ein schweizweites Kuriosum und lässt sich zum Beispiel im Rahmen einer sommerlichen Wanderung oder einer Biketour im Bipperamt am Jurasüdfuss bequem aufsuchen.
Was hat es mit diesem Stein auf sich, der nahe der Kirche Attiswil in einem Kartoffelacker zu sehen ist? Seine Geschichte reicht weit zurück, sehr weit, nämlich bis in die letzte Eiszeit, die ungefähr vor 115’000 Jahren begann vor etwa 12’000 Jahren endete. Irgendwann in dieser Zeit transportierte der Rhonegletscher nebst anderen alpinen Steinbrocken auch den Stein von Attiswil ins nachmalige Berner Mittelland und liess ihn dort liegen. Es handelt sich um einen Findling, bestehend aus hartem Mont-Blanc-Granit.
Dieser von Natur aus längliche Stein fiel den jungsteinzeitlichen Bauern, die nach dem Rückzug der Eismassen vielleicht um 3000 v. Chr. am Jurasüdfuss zu siedeln begannen, offensichtlich auf. Sie richteten ihn auf und verankerten ihn ebenso tief im Boden, wie er aus dem Erdreich ragt; seine Länge beträgt insgesamt 3,6 Meter. Diesem Menhir sprachen die Menschen vermutlich heilige Eigenschaften zu. Fundgegenstände wie Feuersteingeräte und Keramikreste lassen sich als Weihegaben an eine Gottheit interpretieren und deuten auf eine uralte Kultstätte. In der Nähe fanden sich auch Ziegelreste aus römischer Zeit.
Auch die Israeliten kannten Freistätten
Die Heiligkeit dieses Ortes blieb den Leuten während vieler Generationen in Erinnerung. So kam es, dass aus dem vorchristlichen Kultort schliesslich eine christliche Freistatt wurde: ein Ort, an dem echte oder vermeintliche Verbrecher dem Zugriff des Rächers beziehungsweise der Obrigkeit temporär entzogen waren.
Freistätten waren auch in der Antike bekannt: heilige Haine, Tempel und Altäre in alten Griechenland und im römischen Reich. Und laut der Bibel gab es einst sechs Asylstädte für die Israeliten: drei diesseits und drei jenseits des Jordan. Im christlichen Mittelalter befanden sich die Freistätten meist innerhalb einer Kirche oder in einem umfriedeten kirchennahen Bezirk. Das kirchliche Asylrecht geht auf Konstantin den Grossen zurück, den ersten christlichen Kaiser im römischen Reich.
«Es ist (...) dieser Stein sowohl in frühgeschichtlicher wie in rechtsgeschichtlicher Hinsicht ein äusserst interessantes Denkmal, wie sie heute in unserem Lande nur selten mehr anzutreffen sind», heisst es auf der Website bipperamt.ch über den Freistein von Attiswil. Und weiter: «Leider fehlen urkundliche Belege für diese Freistätte. Eines aber darf als sicher angenommen werden: Der Menhir wäre wohl längst, wie so viele seinesgleichen, dem Landbau zum Opfer gefallen, wenn nicht seine im Volksbewusstsein verankerte Bedeutung als ‹Freistein› ihn davor bewahrt hätte.»
Ein Fundament aus Steinbrocken
Der Attiswiler Christian Gygax, ehemaliger Kirchgemeinderatspräsident und Ex-Gemeindepräsident, kennt die Ortsgeschichte gut und führt gelegentlich Dorfführungen durch. Auch der Freistein ist jeweils eine Sehenswürdigkeit, die er seinem Publikum vorstellt. «Ich bezeichne ihn als den ältesten Attiswiler», sagt er und lächelt. 1963, als Neuntklässler, wirkte er sogar als Helfer bei den archäologischen Grabungen am Stein mit.
«Der Stein ist nicht nur über, sondern auch unter der Erde keilförmig», weiss Gygax aus eigener Anschauung. Es sei ganz offensichtlich, dass der Langstein irgendwann von Menschen aufgerichtet worden sei, davon zeugten die Steine, die man am Fuss des Menhirs unter der Erde einst zu einem Fundament aufgeschichtet habe. Von diesem Fundament sieht man heute nichts mehr, denn nach den Arbeiten wurde die Grabungsgrube wieder aufgefüllt.
In der Dorfchronik von 1988 wird die These vom «Freistein» relativiert. Vermutlich habe der Stein einst eine Gerichtsstätte markiert, ist hier zu lesen. Dort seien drei Wege zusammengekommen, auf denen der Täter unbehelligt vor Gericht erscheinen konnte. Beim Stein selber herrschte natürlich ebenfalls Gerichtsfrieden; eine allfällige Strafe an Leib und Leben erfolgte erst nach einem Schuldspruch. Auffällig jedenfalls ist, dass der Galgen der solothurnischen Obrigkeit bloss anderhalb Kilometer von Menhir entfernt stand. Als Bern die Herrschaft übernahm, stellte es die Richtstätte ebenfalls in der Nähe auf.
Wer frevelt, muss bĂĽssen
Die Sagenwelt aber kĂĽmmert sich wenig um historische Details. Sie ĂĽberliefert die Vergangenheit auf ihre Weise: volkstĂĽmlicher, anschaulicher, mit mehr Mystery, Drama und Action. Wie die Geschichte vom Mann, der beim Freistein von Attisiwl Schutz vor dem aufgebrachten Landvogt zu finden hoffte. Wie ist es diesem Mann ergangen?
Der Verfolgte steht dicht am Stein und vertraut noch immer auf dessen magische Schutzwirkung. Der Vogt wird es doch nicht etwa wagen, das alte Gesetz zu brechen? Doch dieser zückt seinen Dolch, die Finger des Verfolgten beginnen zu zittern. Der Vogt hebt den Dolch, der andere löst die Hände vom Stein, um sich zu verteidigen – aber da ist es schon zu spät. Ohne einen Moment zu zögern hat der Vogt, ein geübter Kämpfer und Jäger, dem Mann das Messer zwischen Rippenkorb und Brustbein genau ins Herz gestossen. Mit einem Stöhnen sackt das Opfer zusammen und stirbt auf der Stelle.
Die Volkssage will wissen, dass diese frevelhafte Missachtung des ungeschriebenen Freistatt-Gesetzes Folgen hatte. So sei der Vogt ein Jahr später nach «schrecklichem Siechtum» gestorben, wie Thomas Widmer in seinem Buch «Hundertundein Stein» schreibt. Überdies sei der Vogt dazu verdammt, in manchen Frühlingsnächten als ruheloser Geist an den Schauplatz seiner Untat zurückzukehren. Wer weiss – vielleicht wird er auch heute noch ab und zu von Menschen gesehen, die für Zwischenweltliches ein besonderes Sensorium haben.
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Einst Heiligtum, dann Freistatt, heute ein Sagenort