«Endlich hört jemand zu»
Wenn man sich Boroli Camp nähert, so sieht es aus der Ferne aus wie jedes grosse afrikanische Dorf. Einfache Lehmhütten, die sich aus der Ebene erheben, bilden einen Kreis. Staubige Strassen führen ins Zentrum. Am Ortseingang befindet sich der Markt, auf dem Gemüse, Fisch und Getreide verkauft werden sowie Prepaid-Karten fürs Handy. Es geht lebhaft zu. Das Lager Boroli befindet sich im Verwaltungsgebiet von Adjumani, einem Ort im Norden Ugandas. Seit Jahren ist das Camp Anlaufstelle für zahlreiche Kriegsflüchtlinge. Inzwischen ist die Anzahl auf 10 000 Menschen angewachsen, die hier unter prekären Bedingungen leben.
2013 ist der Bürgerkrieg erneut ausgebrochen
Nach jahrzehntelangem Krieg mit der Zentralregierung im Norden erlangte der Südsudan 2011 seine Unabhängigkeit. Der Friede hielt nicht lange. Kurz nach der Unabhängigkeit kam es zu Übergriffen und Massakern der Nuer an der Murle- Bevölkerung im Bezirk Pibor im Osten des Südsudans. Die medizinische Versorgung und die Landwirtschaft brachen zusammen. Die fatale Lage der Menschen führte 2013 zur Gründung von Boroli Camp.
Seit 2013 herrscht im Südsudan Bürgerkrieg zwischen den Anhängern des Präsidenten Mayardit und dem ehemaligen Vizepräsidenten Machar. Die beiden gehören der jeweiligen Volksgruppe der Dinka oder Nuer an. In dem Machtkampf geht es um Verwaltungsposten, Ressourcen, Siedlungsräume und Weidegründe für das Vieh. Das Ausmass dieses Konfliktes ist enorm: 1,7 Millionen Flüchtlinge sind innerhalb des Sudans unterwegs. 810 000 Menschen flüchteten in die benachbarten Länder. Dies gemäss den neusten Zahlen aus dem Bericht der Vereinten Nationen (UN) vom März dieses Jahres. Trotz steigender Anzahl halten die Nachbarländer die Grenzen offen. 90 Prozent der Neuankömmlinge sind Frauen und Kinder.
Der Beginn der Trockenheit verschärft die Situation im Krisenstaat zusätzlich. Rund 2,8 Millionen Menschen – etwa ein Viertel der gesamten Bevölkerung – benötigt dringend Nahrungsmittel, sagen die UN.
Auskommen mit dem Nötigsten
Die UN versorgen die Flüchtlinge im Camp Boroli mit Nahrungsmitteln und weisen ihnen Land zu. Neuankömmlinge erhalten zubereitetes Essen, gewöhnlich Fufu, einen Brei aus Maniok und Kochbananen, und Bohnen. Weitere Grundnahrungsmittel werden Familien in Säcken zugeteilt, um sie selber zuzubereiten. Oft sparen sie sich einen Teil der wenigen Lebensmittel vom Munde ab und verkaufen diese der lokalen Bevölkerung. Mit dem Geld erstehen sie Dinge des alltäglichen Bedarfs, von der Seife bis zu den Telefonminuten fürs Handy. Manche versuchen, einen Kleinhandel auf dem Markt aufzubauen.
Im Lager stehen einige grosse Mangobäume, die mit einem blauen Kreuz als Besitz der Flüchtlinge markiert sind. Sie tragen viele Früchte, die im April reif sind. Überall trocknen Lehmziegel in der Sonne. Der Ort wächst. Bekommt eine Familie ein Stück Land zugewiesen, fängt sie an, dort eine Unterkunft zu erstellen, in der später neuankommende Verwandte Unterschlupf finden.
Tagelanger Marsch durch die Wüste
Lastwagen fahren vor und bringen 500 neue Flüchtlinge aus einem Auffanglager an der Grenze bei Nimule. Hinter den Frauen, Kindern und wenigen Männern liegen tagelange Märsche durch die Wüste oder karge Steppe. Erschöpft steigen sie von den Trucks und schauen sich unsicher um. Vorerst schlafen sie unter freiem Himmel oder in den wenigen Zelten, die sich im abgesperrten Bereich der Essensausgabe und Verwaltung befinden. Manche finden Familienangehörige wieder und finden dort einen Platz.
An den zwölf Brunnen pumpen Kinder Wasser in Plastikcontainer. Ihre aufgequollenen Bäuche zeugen von Hunger und Wurmbefall. Vor allem Frauen und Kinder sind auf den staubigen Pfaden zu sehen. Dazu einige Alte und Behinderte. Nur wenige Männer leben bei ihren Familien. Einige sind tot oder verschollen. Andere kämpfen im Widerstand oder versuchen als Tagelöhner irgendwo Geld aufzutreiben.
Im Camp stehen mehrere kleine Kirchen. In der Not sei ihnen ihr persönlicher Glaube wichtig, sagen die Leute. Sie schätzen die Kirche als Ort, wo gesungen, musiziert, gelehrt und gebetet wird. Die Kirche der Presbyterianischen Kirche des Südsudans ist mit Spendengeldern des Evangelischen Arbeitskreises für Weltmission, dem österreichischen Partnerwerk von Mission 21, errichtet worden. Mit Gesang wird das Filmteam empfangen und freudig umringt. Die Kinder lachen und schreien.
Grosser Andrang zum Interview
In den folgenden Tagen macht das Filmteam Interviews mit allen Altersgruppen. Die Crew ist in dieses Lager gereist, um einen Dokumentarfilm über die Flüchtlingssituation zu drehen. Zuvor musste sie beim Büro des Premierministers für Migration in Kampala die Besuchs- und Drehgenehmigung holen. Im Boroli Camp ist der Andrang gross. Die Leute wollen ihre Lebens- und Fluchtgeschichten erzählen. Endlich hört ihnen jemand zu und fragt nach.
Ein alter Mann berichtet, wie er 40 Jahre lang von Äthiopien aus für einen unabhängigen Südsudan kämpfte, voller Hoffnung zurückkehrte und nun wieder auf der Flucht ist. Die Enttäuschung ist in sein von Furchen durchzogenes Gesicht geschrieben. Andere erzählen, wie sie um ihr Leben rannten, als die Kämpfe ausbrachen. Sie zeigen ihre Narben und Verletzungen, wo sie Kugeln trafen oder sie durch einen Granatsplitter das Augenlicht verloren.
Die Filmer fragen nach, hören zu und halten all die Geschichten von Leid, Tod und Vertreibung mit der Kamera fest. Die meisten der Flüchtlinge möchten wieder in ihre Heimat zurückkehren. Einzelne wollen in Uganda bleiben. Mit ihrem zerstörten Dorf verbinden sie nur leidvolle Erinnerungen. Die Jungen hoffen, in Uganda eine gute Schulbildung zu erhalten. «Ich will Medizin studieren», verrät Angelina, eine junge Frau, in beinahe akzentfreiem Englisch. Früher besuchte die 18-Jährige in Nairobi ein Internat. Ihre Mutter ist zurück im Südsudan und versucht dort wieder Fuss zu fassen. Sie haben keinen Kontakt mehr. Doch sie wird sie eines Tages holen. Dann mag sich ihr Traum erfüllen.
Boroli Camp hat einen kleinen Kindergarten, der aus allen Nähten platzt. Wer es sich leisten kann, schickt die Kinder in die öffentliche Schule im Nachbarort. Im Flüchtlingslager gibt es gewaltige soziale Unterschiede. Während manche nur das haben, was sie auf der Flucht auf sich tragen konnten, und den Kontakt zur Familie verloren haben, erhalten andere durch ihr familiäres Netzwerk Unterstützung. Diesen wird der Einstieg in die ugandische Gesellschaft oder die Rückkehr leichter gelingen.
Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».
Text und Bilder: Stefan Fischer / Kirchenbote / 18. Mai 2016
Spendenkonto: EAWM, Wien, Raiffeisen Bank, IBAN: AT723200000010375459, Stichwort: Boroli Camp
«Endlich hört jemand zu»