Erinnerung an Gertrud Kurz: «Sie appellierte an die Menschlichkeit»
Gertrud Kurz hätte ein bequemes Leben in gutbürgerlichen Kreisen führen können. Stattdessen schrieb sie als «Mutter der Flüchtlinge» und als Gründerin des Christlichen Friedensdienstes (CFD) Geschichte. Sie engagierte sich für offene Grenzen, eine humane Flüchtlingspolitik, gegen Rassismus und Nationalismus. Sie war keine «Studierte», sondern bezeichnete sich im Gegenteil immer wieder als «einfache Hausfrau».
In Schaffhausen erinnert Andrea Nagel, Geschäftsführerin des CFD, in einem Referat an die Friedensaktivistin, die von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen als «mutig, uneigennützig, beharrlich und unerschrocken» bezeichnet wurde. «Gertrud Kurz suchte nie die Konfrontation – sie leistete Überzeugungsarbeit und appellierte an die Menschlichkeit. Sie diente einem Frieden, der mit Wahrheit und Gerechtigkeit verbunden ist», bezeichnete Martin Jung, Theologieprofessor an der Universität Osnabrück, die Schweizerin.
Die «Berner Hausfrau» und ihr jüdischer Mitstreiter beim Bundesrat
Gertrud Kurz kam 1890 im appenzellischen Lutzenberg als Tochter der Textilfabrikantenfamilie Hohl zur Welt und wuchs behütet auf. 1912 heiratete sie den Gymnasiallehrer Albert Kurz und lebte mit ihm in Bern. Zwischen 1913 und 1921 brachte sie drei Kinder zur Welt. Als 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach, war Gertrud Kurz 49 Jahre alt. Ihr Herz brannte für die Kriegsflüchtlinge, sie setzte sich unermüdlich für die jüdischen und sozialistischen Flüchtlinge aus dem Machtbereich des Nationalsozialismus ein. Als im Sommer 1942 der Bundesrat mit einer massiven Rückweisungspraxis reagierte, suchte Gertrud Kurz den damaligen Bundesrat und Vorsteher des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements, Eduard von Steiger, auf, um auf die menschlichen Tragödien, die der Entscheid zur Grenzschliessung verursachte, hinzuweisen. Laut Bergier-Bericht waren damals 24'000 Flüchtlinge an der Landesgrenze abgewiesen worden. Die «Berner Hausfrau» erreichte, dass der Bundesrat die Grenze für die Flüchtlinge wieder öffnete, wenn auch nur für wenige Wochen. «Durch das Eingreifen von Gertrud Kurz konnten wahrscheinlich Tausende von Menschen vor dem Tod gerettet werden», sagt Andrea Nagel und fügt an, «sie hatte einen jüdischen Mitstreiter, der offenbar Beweise für die Existenz von Konzentrationslagern zu diesem Gespräch mitgebracht hatte.»
Im Glauben verwurzelt
Im Jahr 1958 erhielt Kurz den Ehrendoktortitel der theologischen Fakultät der Universität Zürich. Später wurde sie vom Bundesrat für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Die Geflüchteten selber gaben ihr den Namen «Mutter der Flüchtlinge». Bis zu ihrem Tod im Jahr 1972 engagierte sie sich in der Flüchtlings- und Friedensarbeit und erhielt dafür zahlreiche Auszeichnungen im In- und Ausland.
Gertrud Kurz sei es immer wieder gelungen, Entscheidungsträger für die Schicksale der Geflüchteten zu sensibilisieren. Das fehlende Stimm- und Wahlrecht für Frauen habe sie nicht daran gehindert, bei Behörden und Regierung vorzusprechen und sich Gehör zu verschaffen. Was können wir heute von ihr lernen? «Das unbedingte Zuhören», antwortet Andrea Nagel. «Gertrud Kurz wollte immer wissen, was hinter einer gesellschaftlich gesetzten Grenze passiert. Sei es hinter dem eisernen Vorhang oder in den palästinensischen Gebieten.»
Wie würde das Engagement von Gertrud Kurz heute aussehen? «Sie würde Strukturen, die Ungerechtigkeiten entstehen lassen, offen kritisch gegenübertreten. Damit meine ich Systeme, die Menschen ausbeuten, zum Beispiel den Kapitalismus», so Nagel.
Legendäre Worte an den Chef der Fremdenpolizei
Posthum entstand die Stiftung Gertrud Kurz. Sie setzt sich für Projekte ein, die nachhaltig die Integration von Ausländerinnen und Ausländern fördert, und bewahrt das Andenken an Gertrud Kurz. Anlässlich ihres fünfzigsten Todestages im Jahr 2022 lancierte die Stiftung eine Kampagne, die Erinnerungen an Gertrud Kurz sammelt. Sie spiegeln eine Frau, die aus persönlicher Überzeugung und einem tief verwurzelten Glauben heraus tat, was sie tun musste. «Gertrud Kurz: Gott war gross und gütig. Daneben wurde jeder noch so mächtige Politiker oder Bürokrat ganz klein», schreibt die Journalistin Susan Boos auf der Erinnerungsseite. Esther Gisler Fischer, reformierte Pfarrerin aus Zürich-Seebach, erinnert an eine besondere Anekdote: «Legendär die Szene mit dem Chef der Fremdenpolizei, Heinrich Rothmund, dem sie anlässlich eines Treffens sagte, sie sähe hinter ihm noch jemanden, der mächtiger sei als er. Sie meinte damit Gott.»
Vortrag zum Leben und Wirken von Gertrud Kurz
Dienstag, 29. August, 18.30 Uhr, Gemeindehaus Ochseschüür, Pfrundhausgasse 3, Schaffhausen. Vortrag zum Leben und Wirken von Gertrud Kurz von Andrea Nagel, Geschäftsführerin des Christlichen Friedensdienstes. Im Anschluss Apéro. Eine Veranstaltung der kirchenrätlichen Frauenkommission.
Stiftung Gertrud Kurz: www.gertrudkurz.ch
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