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Spitalseelsorge

«Es gab Zeiten, da habe ich Gott verflucht»

von Carole Bolliger
min
25.09.2024
Unzählige Krankheiten, ein Tumor seit ihrer Kindheit, der frühe Verlust ihres geliebten Vaters: Tamara Schneiters Leben ist gezeichnet von Schicksalsschlägen. Trotzdem gibt die 49-Jährige nie auf.

Es fängt mit einem Tumor im Rückenmark an, der nur zum Teil operativ entfernt werden kann und sie einige Jahre und unzählige Operationen später lähmt und «mich seit 2011 in den Rollstuhl zwingt», sagt Tamara Schneiter. Die 49-Jährige liegt im Bett im Schweizer Paraplegiker-Zentrum Nottwil. Seit zehn Wochen liegt sie nur da. Etwas anderes geht zurzeit nicht. Ein Dekubitus, ein Druckgeschwür, zwingt sie ins Bett. Der vierte an der gleichen Stelle. Dreimal hatte man sie operiert. «Beschissen», beschreibt sie ihre aktuelle Situation. «Einfach nur beschissen.» Sie will nach Hause. In ihre Wohnung, zu ihrem über alles geliebten Hund.

Er hat immer gesagt, alles habe seinen Sinn. Vielleicht sehen wir ihn einfach nicht sofort.

Bis zu ihrem siebten Lebensjahr ist ihr Leben ziemlich normal. Tamara Schneiter rennt durchs Leben, wie sie erzählt. Ein fröhliches, aufgestelltes Kind, das nie geht, sondern immer rennt. Bis sie es nicht mehr kann. Plötzlich verspürt das kleine Mädchen starke Schmerzen in den Beinen. Viele Arztbesuche später entdecken die Mediziner einen Tumor im Rückenmark.

Der Anfang vom Ende, könnte man meinen. Doch die Thurgauerin, die heute im luzernischen Reiden lebt, denkt nicht daran aufzugeben. Nie. Fast nie. «Ja, es gab eine Zeit, da konnte ich nicht mehr. Da wollte ich nicht mehr leben.» Sie ist ganz klar, als sie von ihren schwärzesten Stunden erzählt, als 2017 der Tumor im Rückenmark nach 41 Jahren bösartig wurde.

«Da hatte ich die Nase voll. Und von Gott wollte ich grad gar nichts mehr wissen. Ich habe ihn oft verflucht.» Was hat sie am Leben gehalten? «Ich konnte ja nicht vom Balkon springen», sagt sie. Furztrocken, aber mit einem breiten Grinsen. Dieser Humor habe ihr schon durch manch schwierige, fast ausweglose Situation geholfen. Und den lasse sie sich nicht nehmen.

Durch Gespräche mit ihr habe ich wieder Lebensmut gefasst und gemerkt, dass ich doch nicht so gekämpft und so weit gekommen bin, um jetzt aufzugeben.

Seelsorgerin als wichtige Bezugsperson

Dass sie heute noch da ist, hat noch andere Gründe: ihr unbändiger Wille, ihr kämpferisches Löwenherz, «mein unglaublich sturer Grind» und ihre Mutter und ihre Schwester, die sie bedingungslos unterstützen. Ihr Vater sei leider viel zu früh verstorben vor beinahe 30 Jahren. Er war ihr Fels in der Brandung, ihr bester Freund. Noch heute schiessen ihr Tränen in die Augen, wenn sie von ihrem geliebten Papi erzählt. «Er hat immer gesagt, alles habe seinen Sinn. Vielleicht sehen wir ihn einfach nicht sofort.» Dieser Satz begleitet sie durchs Leben.

Eine weitere wichtige Bezugsperson ist Ursula Walti. Sie ist Pfarrerin der reformierten Kirche Kanton Luzern und begleitet zusammen mit Stephan Lauper, dem katholischen Seelsorger, Patienten, Angehörige und Angestellte seit 13 Jahren als Seelsorgerin im Paraplegiker-Zentrum. «Durch Gespräche mit ihr habe ich wieder Lebensmut gefasst und gemerkt, dass ich doch nicht so gekämpft und so weit gekommen bin, um jetzt aufzugeben», erzählt Tamara Schneiter. Sie stellte sich der Bestrahlung und der Chemotherapie.

Seit 13 Jahren begleitet Ursula Walti Tamara Schneiter. Immer, wenn Tamara wieder einige Zeit in Nottwil verbringen muss. «Ursula ist für mich eine sehr wichtige Person. Ich kann ihr alles sagen, weinen, schreien, auch mal fluchen oder einfach nur schweigen.» Sie spüre jeweils gut, was Tamara gerade brauche. Und gehe ohne Vorurteile auf sie ein. Die beiden lachen auch viel zusammen. Ihr schwarzer Humor hilft der 49-Jährigen, mit all ihren Krankheiten und Schicksalsschlägen umzugehen. «Trotz allem möchte ich das Leben geniessen mit den Möglichkeiten, die ich noch habe.»

Dankbar, trotz allem

Der wichtigste Raum im Paraplegiker-Zentrum ist für sie der Raum der Stille. Dort geniesst sie die Stille, sucht das Gespräch mit Gott. Manchmal allein, manchmal mit Ursula Walti.

Tamara Schneiter lebt normalerweise mit ihrem Hund im luzernischen Reiden. Der Glaube spielt für sie eine grosse Rolle. Auch wenn er zeitweise ins Wanken gerät. Wenn sie wieder mit einem Schicksalsschlag konfrontiert wird. Über all ihre Krankheiten, Unfälle und Gebrechen, die sie bereits in ihrem Leben hatte, zu berichten, würde den Rahmen hier sprengen. Trotz allem ist Tamara Schneiter sehr dankbar für alles, was sie hat. «Vor allem dass ich noch lebe.» Ursula Walti, ihre Familie, ihre Freunde, ihr Hund und ihr Glaube geben ihr Halt und Kraft.

Eine eindrückliche Frau mit einer noch eindrücklicheren Lebensgeschichte. Eine Geschichte, die nahezu unglaublich ist, eine Geschichte, wie man sie nicht erfinden könnte. Von einer Frau, von deren Lebenseinstellung sich manch einer eine Scheibe abschneiden könnte.

 

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