«Es gibt auch Fortschritte»
Sie arbeitet als Augenärztin in Wil und Uzwil, sitzt seit 2016 im St. Galler Stadtparlament und war bis vor Kurzem Präsidentin der GLP des Kantons St. Gallen. Mit ihrer jungen Familie lebt Nadine Niederhauser am Stadtrand. Im Garten scharren Seidenhühner, die Tochter quiekt vor Freude. Für die bald Zweijährige habe sich durch Corona wenig verändert: Die maskierten Eltern lassen sie mehr oder weniger kalt, dass sie die Grosseltern im Frühjahr nicht umarmen durfte, fand sie zwar nicht lustig, hat sie aber irgendwie akzeptiert. Und was ist für die Mutter, Ärztin und Politikerin alles anders geworden?
Die Umarmung fehlt …
Tatsächlich trifft sie in diesen Tagen Corona erstmals persönlich. Personen aus dem engeren Familienkreis befinden sich in Quarantäne, zeigen Symptome. So wird die latente Sorge, die Niederhauser seit sieben Monaten begleitet, konkret. «Man realisiert zum Beispiel, dass auch die eigenen Eltern älter und verletzlicher werden.» Hinzu komme im Falle kranker Eltern die Frage: Wohin mit dem Kind? Als die Grosselternbetreuung während des Lockdowns ausfiel, blieben glücklicherweise die Kitas offen. «Aber mit einem Mal war es nicht mehr selbstverständlich.» Solche kleinen Verschiebungen sehe sie in allen Bereichen. «Das Bewusstsein wird geschärft. Man schätzt, was man hat, und man vermisst, was immer gegeben schien.» Zum Beispiel Umarmungen. «Diese fehlende Nähe – das finde ich schon schwer.» Bei engen Freunden erlaube sie sich darum manchmal eine Ausnahme.
... Händeschütteln nicht
Die derzeit stark ansteigenden Fallzahlen verfolgt die Ärztin gefasst, aber mit Sorge. Jetzt, wo die Grippesaison beginne, müsse massiv mehr getestet werden. Eine grosse Herausforderung für das Gesundheitssystem. Doch auch hier habe Corona Gutes bewirkt. «Aus medizinischer Sicht war konsequente Handhygiene für unsere Gesellschaft längst überfällig. Dass sich unsere Patientinnen und Patienten nun beim Eintreten ganz selbstverständlich die Hände desinfizieren, ist ein echter Fortschritt.» Das Händeschütteln vermisse sie nicht. Gibt es weitere Dinge, die gern so anders bleiben dürfen? «Dass man Ferien in der Schweiz macht, statt irgendwohin zu fliegen.» Womit wir bei der Politik angelangt wären. Ja, zeitweise habe die Krise alle anderen Themen verdrängt, auch die Klimaerwärmung. Aber jetzt tue sich endlich wieder etwas. «Gerade kehrt die Klimabewegung zurück. Und die Bevölkerung der Stadt hat den Nachtrag zu Klimaschutz und Klimawandel angenommen. Ich bin optimistisch.» Auch hier also: kleine Verschiebungen, ein neues
Bewusstsein.
Text: Julia Sutter | Foto: Bilderwerk Uzwil – Kirchenbote SG, November 2020
«Es gibt auch Fortschritte»