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Kirche und AfD

«Es gibt viel Offenheit und Menschenliebe»

von Vera Rüttimann
min
24.02.2025
Sabine Wagner ist seit zwei Jahren Pfarrerin an der evangelisch-lutherischen St.-Laurentius-Kirche in Leipzig-Leutzsch. Wie geht es den Ostdeutschen 35 Jahre nach der Deutschen Einheit? Und warum ist die AfD so stark?

Sabine Wagner, warum erzielt die AfD bei Bundestagswahlen vor allem in Ostdeutschland Erfolge?

Das ist eine schwierige Frage. Ich denke, Deutschland folgt einem europäischen Trend zu starken nationalistischen Bewegungen. Unsere politische Landschaft war lange ausgewogen, nun wird sie extremer.

Man hört oft, die Ursachen für den Wahlerfolg im Osten lägen in den ersten Nachwendejahren. Was lief da schief?

In den 1990er-Jahren war ich noch ein Kind. Ich erlebte einen grossen Bruch bei den Erwachsenen um mich herum. Viele verloren ein grosses Stück Lebensgeschichte, von Kind auf eingeübte Überzeugungen und Lebensgewissheit. Grosse Unternehmen brachen zusammen. In meiner Heimatstadt bei Zwickau gingen im Autowerk, das Teile für den Trabant herstellte, viele Arbeitsplätze verloren. Die Berufsidentität vieler zerbrach. Der Übergang ins neue Wirtschaftssystem misslang vielen.

Spürt man diese Erschütterung heute noch?

Ja. Die 1990er-Jahre prägen die Menschen noch immer. Ich war schockiert, als die AfD 2019 in Leipzig-Schleussig ein beachtliches Wahlergebnis bei den Stadtratswahlen erzielte. Als Studentin lebte ich dort. Heute ist es ein gut situiertes Viertel. Die Bewohner haben sich nach der Wende auf das neue System eingestellt und Erfolg erreicht. Doch die grossen Unsicherheiten der Wendezeit sind noch spürbar, auch bei Jüngeren.

 

Pfarrerin Sabine Wagner hat in der St. Laurentius-Gemeinde in Leipzig-Leutzsch das Diskussionsformat «Politisches Abendbrot» eingeführt. Sie möchte damit Gespräche über Demokratie, Wahlen und Flüchtlingspolitik anregen. Der Mitteldeutsche Rundfunk berichtete über diese Initiative in der Dokumentation «Kirche und AfD».

 

Aber es gibt auch Positives, etwa ökologische und pazifistische Gruppierungen. Ist dieses Engagement ein Erbe der 1989er-Revolution?

Ja, da sind die Wurzeln. In meiner vorherigen Gemeinde wirkte eine starke ökologische Bewegung nach. In der Leipziger Nikolaikirche findet jeden Montag das Friedensgebet statt. Im Osten können wir noch lernen, Demokratie zu gestalten und eine gute Gesellschaftsform zu leben. Das erfordert Gespräche und eine Diskussionskultur, die wir in der DDR nicht lernten.

Warum wählen junge Leute die AfD?

Ich frage mich das auch. Vielleicht erleben sie die Unsicherheit ihrer Eltern und ihrer Grosseltern mit. Bei älteren AfD-Wählern spielt der Umstand eine Rolle, dass in der DDR keine freie Meinungsäusserung möglich war. Sie sagen oft: «In der DDR durften wir nicht frei sprechen. Jetzt reden wir.»

Wie wurden Sie zur Protagonistin der MDR-Doku «Die Kirche und die AfD»?

Im Superwahljahr 2024 sprach ich nach einem Gottesdienst mit Gemeindemitgliedern. Wir stellten fest: Die Wahlerfolge der AfD beschäftigen viele. Viele sagten, man könne darüber nicht reden. In Familien und Kollegenkreisen wird das Thema Politik oft vermieden, um Streit zu verhindern. In Gemeindekreisen ist das ähnlich. Wir dachten: Es wäre gut, einen Ort zu haben, um über gesellschaftliche Entwicklungen zu sprechen. So entstand ein neues Format, das «Politische Abendbrot».

Wie läuft das «Politische Abendbrot» ab?

Zu dieser Runde kommen zehn Personen. Das Format fand bisher dreimal statt. Das Vorbereitungsteam wählt Themen aus. Beim letzten Treffen verglichen wir Bundestagswahl-Programme und diskutierten soziale Fragen und die Haltung der Parteien zu Religionen und Kirchen. Es kam zu einem Austausch verschiedener Meinungen, was wir uns wünschen.

Wie stehen Sie zur christlichen Gruppe in der AfD?

Ich verstehe nicht, wie jemand an Jesus glauben und gleichzeitig Menschen in Deportationslager schicken will. Die Botschaft des Evangeliums von der Liebe Gottes ist für mich unvereinbar mit dem Denken der AfD.

Gibt es in Ihrer Gemeinde AfD-Wähler, und wie gehen andere mit ihnen um?

In der St.-Laurentius-Kirchgemeinde gibt es vermutlich Menschen mit konservativen Überzeugungen und Vorbehalten, etwa gegenüber Homosexualität und Einwanderer. Ich kenne jedoch niemanden, der sich als AfD-Wähler vorgestellt hat. Hier trifft man auf ein herzliches und offenes «Völkchen».

Die Medien bezeichnen Ostdeutschland wegen der AfD-Erfolge gerne als «Dunkeldeutschland». Wo sehen Sie in Ostdeutschland Hoffnung?

Es gibt viel Offenheit und Menschenliebe, auch in Ostdeutschland. In vielen kleinen Städten und Orten engagieren sich Vereine für Demokratie, und Kirchgemeinden finden Partner für gemeinsame Projekte. Klar: Es gibt in Sachsen Orte, aus denen viele weggezogen sind, zuerst aus wirtschaftlichen Gründen, manche auch, weil sie die politische Stimmung nicht länger ertragen konnten. Was mir Hoffnung gibt, ist, selbst wenn die AfD irgendwann bei 30 Prozent Wählerstimmen liegt, bleiben 70 Prozent mit anderen Werten.

 

Das Interview mit Sabine Wagner wurde vor der Bundestagswahl geführt. Nach dem vorläufigen Endergebnis erhielt die AfD bei den Wahlen am 23. Februar 2025 in allen fünf ostdeutschen Flächenländern die meisten Stimmen. Die Partei erzielte teilweise weit über 30 Prozent der Stimmen. Im neuen Bundestag hat die AfD ihr Resultat von 2021 verdoppelt und stellt nun mit 20,8 Prozent die zweitstärkste Fraktion hinter der CDU/CSU, die 28,6 Prozent erreichte. Die SPD folgt mit 16,4 Prozent, die Grünen mit 11,6 Prozent und die Linke mit 8,8 Prozent. Die FDP (4,3 Prozent) und das Bündnis Sahra Wagenknecht (4,97 Prozent) scheiterten an der Fünf-Prozent-Hürde. (nin)

 

Befürchten Sie, dass die AfD Gelder bei Sozialprojekten kürzt?

Ja, diese Befürchtung habe ich. Sozialarbeiter und Menschen, die in Sachsen Demokratiearbeit leisten, berichten von schwierigen Bedingungen und Stellenkürzungen.

Haben Sie Angst vor Geschichtsvergessenheit bei Jüngeren?

Es besorgt mich, wenn junge Menschen die deutsche Geschichte nicht gut kennen. Die gewaltfreie Revolution von 1989 und das Leben davor sind vielen nicht mehr präsent, auch in den alten Bundesländern. Viele Jugendliche wissen nicht, was der Holocaust war. Sie erkennen nicht, dass «Alice für Deutschland» ähnlich klingt wie «Alles für Deutschland!». Solche Schlagworte bleiben im öffentlichen Raum stehen, weil auch Ältere sie nicht mit der Vergangenheit verbinden, vor allem nicht mit dem, was vor 80 Jahren geschehen ist.

Welche Rolle spielt die Kirche in diesem Kontext?

Als Kirchgemeinde bieten wir einen Raum, in dem Informationen ausgetauscht, Meinungen diskutiert und mit unserer christlichen Verantwortung in Beziehung gesetzt werden. Ich hoffe, das gelingt – mit Gottes Hilfe.

 

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