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«Fantasy öffnet Denk-Räume»

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10.03.2016
Mike Gray ist reformierter Pfarrer – und Fantasy-Liebhaber. Im Gespräch erklärt er, was «Harry Potter» mit der Bibel gemeinsam hat und warum «Star Wars»-Gottesdienste kein Unfug sein müssen.

Herr Gray, in Berlin führt man seit neuem «Star Wars»-Gottesdienste durch. Was halten Sie davon?
Davon habe ich gehört, und ich muss zugeben: eine coole Sache. Ich bin fast ein bisschen neidisch. Allerdings bin ich kein grosser «Star Wars»-Kenner. Ausserdem: Ich bin Pfarrer, der nebenbei auch Fantasy-Experte ist. In meiner Gemeinde mache ich zwar von Zeit zu Zeit etwas zum Thema, aber mir wäre es nicht recht, wenn man mich im Dorf als «Fantasy-Pfarrer» wahrnehmen würde.

Warum?
Als Pfarrer habe ich einen Auftrag der ganzen Bevölkerung gegenüber. Und Fantasy ist weiss Gott nicht jedermanns Sache. Die Hälfte der Leute kann wahrscheinlich nichts damit anfangen. Und ich kann als Pfarrer ja nicht nur einen Bruchteil der Bevölkerung ansprechen. Zudem: Fantasy kann zwar bereichernd sein, aber sicher nicht ständig. Ich gestalte zum Beispiel am 10. April einen Gottesdienst mit dem Titel «Reisen in Gegenwelten – für Potterfans, Egoshooters und andere gute Christen». Darauf freue ich mich natürlich – aber so was ist eher eine Seltenheit. Mehr wäre einfach nicht fruchtbar.

Angenommen, Sie hätten nur Fantasy-Fans in Ihrer Gemeinde – dann sähe es anders aus, oder?
Das wäre eine seltsame Gemeinde – und ehrlich gesagt, würde ich mich eingegrenzt fühlen. Ich liebe Fantasy, denn ich kenne mich damit aus. Aber es gibt noch andere Dinge daneben.

Welche Verbindungen gibt es zwischen Fantasy und Religion?
Fantasy ist eine literarische Gattung, in der nicht die Geschichte eines Protagonisten in unserer Welt erzählt, sondern eine ganz andere Welt erschaffen wird. Dadurch stellen sich gleich viele grosse Fragen: Warum gibt es diese Welt, warum ist sie gerade so und nicht wie unsere? Interessant ist auch die Darstellung von Magie: Viele Fantasy-Geschichten sind magiekritisch. Magie ist selten die Lösung. Im Gegenteil, oft schafft sie erst die Probleme. Fantasy muss nicht zwingend religiöse Fragestellungen enthalten. Aber eine Neigung dazu ist nicht zu verkennen.

Fantasy kann also zu religiösen Fragen hinführen?
Genau. Ich hatte kürzlich eine Veranstaltung am «Forum für Zeitfragen» in Basel. Dort gibt es eine Gesprächsreihe mit dem Titel «DenkRaum». Genau solche Denk-Räume öffnet Fantasy. Man betritt als Leser eine komplett andere Welt, und in dieser fängt man an, Fragen zu stellen. Zurück im realen Leben nimmt man diese Fragen mit. Die Bibel funktioniert ähnlich. Auch sie schafft eine Gegenwelt. Wenn Jesus sagt: «Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden», dann konstruiert Jesus eine Gegenwelt. Auch die ganzen Wundergeschichten in der Bibel sind Gegenwelten.

Aber der Anspruch ist ein anderer …
Sicher, die Gegenwelten der Bibel haben eine andere Ernsthaftigkeit. Die Autoren der Evangelien begnügten sich nicht damit, einfach eine Gegenwelt zu zeigen. Nein, sie meinten: «Hey, Leute, genauso ist es!». Wenn hingegen Harry Potter auf einem Besen rumfliegt, ist das nicht ernsthaft gemeint. Biblische Gegenwelten werden anders gebaut. Trotzdem kann auch Fantasy einen Einfluss darauf haben, wie ich die Welt wahrnehme.

Wie das?
Nehmen Sie das Beispiel der imaginären Zahlen. Das sind Zahlen, die keinen Sinn machen. Damit können wir nichts einkaufen. Wir haben diese Zahlen auch nicht auf unserm Bankkonto, ausser vielleicht bei der UBS (lacht). Aber mit imaginären Zahlen kann man sich Sachen denken, die sonst undenkbar wären. Viele Technologien beruhen auf imaginären Zahlen. Kurz: Der Umweg über die Imagination führt ins Leben zurück und ermöglicht ganz neue Einsichten.

Das ist die Kraft der Phantasie …
Ja. Ein anderes Beispiel: Es gibt diese Landkarten, die die Welt nicht aufgrund ihrer physischen Dimensionen darstellen, sondern etwa aufgrund des Pro-Kopf-Einkommens. Afrika ist dann nur ein ganz dünner Strich, und die Schweiz ein gigantischer Ballon. Das Bild scheint uns irreal, aber das heisst nicht, dass es keine Aussage über unsere Realität machen kann. Bei Fantasy ist es ähnlich.

Im Vergleich zur Bibel sind Fantasy-Geschichten aber doch relativ simpel gestrickt – hier die Guten, da die Bösen …
Ist das wirklich so simpel? Nehmen Sie einmal «Herr der Ringe»: Es ist ja nicht so, dass die Guten den Ring der Macht ausschliesslich zum Guten verwenden und die Bösen zum Bösen. Nein, alle verfallen sie den Lockungen der Macht. Und selbst bei jenen, die eigentlich Gutes mit dem Ring bewirken wollen, kommt es schlecht heraus. Als Frodo der Elfenkönigin den Ring anbietet, hat sie eine schreckliche Vision, was passieren würde, wenn sie den Ring ergreifen würde. Ganz so plakativ ist Fantasy also nicht. Zugegeben, die Vorstellung, dass der Ring per se böse ist, ist etwas simpel. Aber auch hier könnte man fragen: Gibt es nicht auch in der Realität Dinge, die per se problematisch sind – etwa die Atomkraft?

Reden wir über die Schattenseiten von Fantasy. Die Gesellschaftsbilder, die in diesen Büchern verbreitet werden, sind doch oft archaisch. Nicht zu reden von der Rolle der Frau …
Das ist tatsächlich ein Problem. Die «Harry Potter»-Bücher zum Beispiel verbreiten ein sehr traditionelles und heteronormatives Gesellschaftsbild. Und dies, obwohl ihre Schöpferin Joanne Rowling eine moderne Frau ist, die sich politisch stark engagiert. Bei den Klassikern der Fantasy ist das weniger überraschend. Das waren ja traditionsbewusste Herren aus Oxford und Cambridge. Denen war nicht mehr zu helfen. Was C.S. Lewis über Frauen gesagt hat, ist haarsträubend. Das Problem ist, dass diese Autoren die spätere Fantasy-Literatur stark geprägt haben. Insofern hat Fantasy dieses konservative Weltbild in den Genen.

Trotzdem hatten Bücher wie «Harry Potter» einen gigantischen Erfolg. Hat Fantasy das Potential zur Ersatzreligion?
Wenn Fantasy grosse Gefühle auslöst und leidenschaftliche Leser-Gemeinschaften bildet, kann sie manche Bedürfnisse stillen, die ein ausgelebter religiöser Glaube auch erfüllen will. Ich denke, manche Fussballfans machen ähnliche Erfahrungen, wenn sie im Stadion in der Gemeinschaft des Fanclubs feiern. Aber ich kenne trotzdem niemand, der wirklich meint, Harry Potter oder Lionel Messi sei der liebe Heiland – und ich weiss auch von keinem einzigen Fantasy-Autor, der sich so etwas wünschen würde. Ich kenne hingegen recht viele Fantasy-Fans, die durch solche Bücher, Filme und Spiele den Ansporn gefunden haben, neu oder anders über das faktisch existierende Christentum nachzudenken.

Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch».

Heimito Nollé / ref.ch / 10. März 2016

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