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«Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus haben ähnliche Wurzeln»

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25.02.2016
Ralph Lewin wertet es als ein Zeichen für die Gleichberechtigung der Juden, dass er 1996 in den Basler Regierungsrat gewählt wurde. Trotzdem bereitet ihm der zunehmende Extremismus Sorge.

Herr Lewin, seit 150 Jahren sind die Juden in der Schweiz gleichgestellt. Fühlen Sie sich als jüdischer Bürger in der Gesellschaft gleichberechtigt?
Ja. Ich denke, ohne eine solche auch faktische Gleichberechtigung wäre ich nicht in das Amt als Regierungsrat gewählt worden.

Gesetzlich sind die Juden gleichgesetzt. Trotzdem erklärte SIG-Präsident Herbert Winter an einer Veranstaltung, dass Juden in der Schweiz sich vor dem Antisemitismus fürchten müssen. Ist das auch Ihre Einschätzung?
Die Angst, die Herbert Winter anspricht, bezieht sich darauf, dass sich Juden vermehrt unsicher fühlen und sich vor möglichen Angriffen schützen müssen, wie wir sie etwa in Frankreich oder Dänemark erlebt haben. Die zunehmenden Sicherheitsmassnahmen bei jüdischen Einrichtungen zeugen davon.

Wie spüren Sie diesen Antisemitismus?
Persönlich habe ich offenen Antisemitismus zum Glück sehr selten erlebt. Als Regierungsrat erhielt ich in zwölf Jahren nur ein – allerdings sehr ausfälliges – anonymes Schreiben; das hat mich betroffen gemacht. Wenn ich jeweils die Sicherheitskontrollen bei den Gemeindeeinrichtungen passiere, kommt es vor, dass ich die von niemandem bezweifelte Notwendigkeit dieses Schutzes bedaure. Die jüdischen Gemeinden würden sich wünschen, dass sich der Staat mehr um ihre Sicherheit kümmert. Da ist nun auf Bundesebene einiges im Tun.

Hat der Antisemitismus in den letzten Jahren zugenommen?
Der latente Antisemitismus war immer vorhanden. Zugenommen haben verbale und tätliche Ausfälligkeiten gegenüber Juden. Auch die Drohungen in den Sozialen Medien werden häufiger. Die Gründe sind vielschichtig. Es gibt eine wachsende Zahl von Menschen, die die Ursache der Probleme im Fremden oder Andersartigen suchen. Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus haben teils ähnliche Wurzeln.

 «Es ist sehr wichtig, das Judentum positiv und nicht als Abgrenzung zum Antisemitismus zu definieren.»


Wäre es in dieser Situation nicht wichtig, dass die Schulen vermehrt Wissen über die Religionen vermitteln? Doch es gibt Bestrebungen, den Religionsunterricht aus den Schulen zu entfernen.
Ja, ganz klar. Die Schulen haben hier einen Bildungsauftrag. Zumindest ein Grundverständnis für die verschiedenen Religionen sollte sie vermitteln, aber nicht im luftleeren Raum, sondern eingebettet im geschichtlichen Zusammenhang. Dazu gehört auch das 20. Jahrhundert, zu dem leider nicht alle Klassen vorstossen.
Mit dem neuen Lehrplan 21 wird gerade in Basel der staatliche, konfessionell neutrale Religionsunterricht gegenüber früher gestärkt. An den Primar- und Sekundarschulen ist «Ethik, Religionen und Gemeinschaft» neu ein obligatorischer, von staatlichen Lehrpersonen erteilter Fachbereich. Das garantiert, dass alle Kinder und Jugendlichen ein religiöses Basiswissen erwerben. Wissen immunisiert gegenüber Vorurteilen und Ressentiments. Zusätzlich können die öffentlich-rechtlich anerkannten Religionsgemeinschaften wie bisher an den Schulen nicht staatlichen Religionsunterricht anbieten.

In den vergangenen Jahren wird Religion vermehrt negativ wahrgenommen. Als etwas Gefährliches, das man mit Verboten wie dem Minarett- oder Burkaverbot bekämpft. Wie könnte man beispielsweise das Judentum positiv wahrnehmen?
Es ist sehr wichtig, das Judentum positiv und nicht als Abgrenzung zum Antisemitismus zu definieren. Im Moment geschieht dies im Rahmen einer Wanderausstellung zu 150 Jahren Gleichstellung der Juden. Sie zeigt anhand von 14 Porträts verschiedener jüdischer Persönlichkeiten – beispielsweise einem Viehhändler, einem Hornisten, alt Bundesrätin Ruth Dreifuss, einem religiösen Offizier der Schweizer Armee, einem Entertainer im Show-Business oder einer  ehemaligen  Bundesrichterin –  dass es den Juden oder die Jüdin genauso wenig gibt wie den Protestanten oder die Katholikin.

Apropos positive Wahrnehmung: Für welche Werte in der Gesellschaft steht das Judentum ein?
Was die Werte des Judentums betrifft, so gibt es zum einen zahlreiche religiöse Vorschriften wie strenge Speisegesetze oder das Achten des Schabbath und der Feiertage oder gewisse Kleidervorschriften. Strenggläubige Juden halten sie in erster Linie ein, weil sie von der Thora vorgegeben sind, und nicht weil damit ein bestimmter Zweck verbunden ist. Zum andern ist der gute Umgang mit den Mitmenschen zentral. Dazu gehört beispielsweise, niemanden zu schädigen, nicht schlecht über andere zu reden, Streit auszuräumen, Kranke zu besuchen und Bedürftige zu unterstützen. Die Wohltätigkeit durch Freiwilligenarbeit und Spenden nimmt im Leben der jüdischen Gemeinschaft einen hohen Stellenwert ein.
Soll sich ein Staat auf religiöse Grundwerte wie in der Präambel zur Bundesverfassung und der Nationalhymne berufen, wenn viele Glaube als Privatsache betrachten?
Auch heute hat der Glaube für viele Menschen eine grosse Bedeutung. Selbst jene, die selten oder nie ein Gotteshaus besuchen und keiner Konfession angehören, denken zumindest ab und zu, dass es doch so etwas wie eine höhere Macht gibt. Wenn sich der Staat in seiner Verfassung darauf beruft, dann soll er dies in einer so generellen Art tun, dass sich die Angehörigen aller Konfessionen darin erkennen und niemand ausgegrenzt oder zu etwas genötigt wird.

Was müsste geschehen, dass die Juden endgültig in der Gesellschaft ankommen? Oder wie es Herbert Winter formuliert, dass Juden ihre Kippa nicht unter einem Hut verstecken müssen?
Die meisten Juden sind durchaus in der Gesellschaft angekommen. Leider gibt es einen zunehmenden Extremismus in der Welt, der die Sicherheit beeinträchtigt. Und leider gibt es noch immer einen Antisemitismus, der auf negativen Stereotypen beruht, auf Ressentiments, auf einem dumpfen Hass gegen alles, was jüdisch ist. Dagegen muss man ankämpfen, auch bei den Ursachen, nicht nur den Symptomen. Natürlich gibt es in der Schweiz – wie anderswo auch – eine Mehrheitsgesellschaft; nicht jede und jeder möchte sich davon öffentlich sichtbar unterscheiden, selbst wenn er nichts zu befürchten hat. Vollends angekommen in der Gesellschaft ist derjenige, der sich ganz frei fühlt in seiner persönlichen Entscheidung, seine Kippa zu tragen oder auch nicht.

Interview: Franz Osswald/Tilmann Zuber, kirchenbote-online.ch

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