«Friede ist kein Zustand, sondern ein Prozess»
Frau Sancar, was ist Friede?
Annemarie Sancar: Friede ist nicht einfach kein Krieg. Friede ist auch kein Zustand, sondern ein Prozess. Das heisst: Am Frieden muss man dauernd arbeiten. Und dies ausgehend vom Kontext, in dem wir uns für ein friedliches Zusammenleben einsetzen. Frieden ist nicht etwas, das man einmal erreicht, und dann bleibt es für immer so. Denn die Bedingungen ändern sich.
Sagen Männer und Frauen das Gleiche, wenn man sie fragt, was Friede ist?
Ich würde das nicht so absolut auf zwei Geschlechter zuspitzen. Was man aber aus der Forschung sagen kann, ist, dass sich bei Abstimmungen zu Themen wie Rüstungskäufen und Waffengesetzen Unterschiede zeigen: Tendenziell sind mehr Männer für und mehr Frauen gegen Aufrüstung. Weil aber unsere Gesellschaft insgesamt stark patriarchal geprägt und dominiert ist, schwingen viele Frauen im patriarchalen Modus mit. Denn es fehlen oft alternative Formen des Denkens und Handelns.
Sie haben in Ihrer Arbeit für den Frieden festgestellt, dass Angst ein wichtiger Treiber für Konflikte und Kriege ist. Was passiert da?
Verängstigte Menschen lassen sich manipulieren. Das nutzen kriegstreibende Kräfte, die dies brauchen, um den (bewaffneten) Kampf zu legitimieren. «Wir» gegen «die Anderen» scheint wie eine Erlösung. Doch Angst im Alltag, Angst vor anderen Menschen, Angst vor dem Unberechenbaren – ein idealer Nährboden für die Militarisierung des Denkens und des Handelns – lässt sich nicht mit militärischen Mitteln beseitigen. Denn Aufrüstung und mehr Waffen bedeuten nicht mehr Sicherheit.
Was ist aus Ihrer und aus feministischer Sicht Sicherheit?
Sicherheit ist vor allem soziale Sicherheit: Zuhause, am Arbeitsplatz, im öffentlichen Raum, und es ist auch wirtschaftliche Sicherheit.
Die Frauen- und Genderkonferenz
Die Bernerin Annemarie Sancar ist Expertin für feministische Friedenspolitik und Geschlechtergerechtigkeit. Sie war zu Gast an der Frauen- und Genderkonferenz der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS). Diese widmete sich in Bern einen Tag lang dem Erbe von Clara Ragaz-Nadig. Geboren im Jahr 1874 widmete Clara Ragaz-Nadig ihr Leben der Förderung des Friedens und setzte sich für die Gleichstellung der Geschlechter ein. An der Frauen- und Genderkonferenz wurde einerseits das Leben von Clara Ragaz-Nadig beleuchtet und gewürdigt, andererseits befassten sich die Teilnehmerinnen in Workshops konkret mit feministischen Ansätzen der Friedensförderung.
Welche Wege führen aus feministischer Sicht zum Frieden?
In einer den Frieden anstrebenden Gesellschaft muss die Sorge der Menschen füreinander und untereinander im Zentrum stehen. Daran sollte sich auch ein Wirtschaftssystem ausrichten: Im Zentrum stehen müssen die Bedingungen, unter denen Care-Arbeit verrichtet wird, also also Sorgetätigkeiten. Die Grundversorgung für alle – dazu gehört auch Bildung, eine gute Wohnsituation, Zugang zur Rechtsprechung, zur Mobilität – muss sichergestellt sein. Ihr muss grosser Wert beigemessen werden, auch wenn sie nicht als profitabel erscheint – aus neoliberaler Sicht zumindest. Wirtschaft, Sicherheit und Frieden sind miteinander verflochten.
Sie sagen, Konflikte und Kriege stärken «das Bild vom starken Mann», das patriarchale System. Was kann dem entgegengesetzt werden?
Es ist wichtig, was Frauen zu Sicherheit und Unsicherheit, zu Frieden und Gewalt zu sagen haben. Wir haben in unserer Friedensarbeit Geschichten von Frauen in Kriegsgebieten gesammelt und veröffentlichen diese bald. Das sind starke Stimmen für den Frieden. Nicht zuletzt braucht es eine Vision, dass Frieden möglich ist.
Was gibt Ihnen nach Jahren in der feministischen Friedensarbeit Hoffnung, dass Frieden möglich ist?
Es ist die Zusammenarbeit mit all diesen Frauen lokal und weltweit. Wir geben uns immer wieder neue Ideen, Mut und Wissen. Wir Frauen versuchen, die Vision einer friedlichen Gesellschaft stetig zu untermauern. Dafür gibt es kein Rezept. Ausser vielleicht daran zu denken, dass kleine Beiträge zu einer friedlicheren Gesellschaft viel bewirken.
«Friede ist kein Zustand, sondern ein Prozess»