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Forschung

Frühe Christen: Vom Fluch zur Feindesliebe

von Isabelle Berger/reformiert.info
min
25.06.2024
In der Antike herrschte eine rege Kultur des Verfluchens. Mit Hilfe der Götter sollten Widersacher und abweisende Geliebte zu Schaden kommen. Doch dann kam das Christentum.

Wenn heute von einem Fluch die Rede ist, dann geht es normalerweise um wiederholtes Unglück. Doch in der Regel wird dafür keine bestimmte Person verantwortlich gemacht. Es ist einfach ein auffälliges, nerviges Pech, das benannt wird. Das bewusste Aussprechen von Flüchen zu Lasten eines Widersachers oder einer Widersacherin ist vielen Leuten zwar noch bekannt, gehört aber ins Reich von Märchen und Sagen.

Das war aber nicht immer so. In der Antike gehörte das Fluchen in letzterem Sinne zum Alltag. Belegen tun dies zahlreiche Bleitäfelchen, auf denen Flüche eingeritzt sind. Meist sind sie in den antiken Alltagssprachen Latein, Griechisch und Koptisch verfasst. Sie tauchen zwischen dem 7. Jahrhundert vor bis zum 7. Jahrhundert nach Christus von Spanien bis in den Vorderen Orient und von Britannien bis nach Nordafrika auf. Gefunden werden sie bei Ausgrabungen, oft bei Heiligtümern, aber auch in Wohnhäusern, Wettkampfstadien und Gräbern.

 

Markus Lau

Der Professor ist Inhaber des Lehrstuhls für Neutestamentliche Wissenschaften an der Theologischen Hochschule Chur. In seiner Forschung beschäftigt er sich unter anderem mit antiken Fluchtafeln und zieht diese für die Interpretation neutestamentlicher Texte heran.

 

Der Theologe Markus Lau hat sich in seiner Forschung mit den Fluchtafeln beschäftigt. «Es handelt sich dabei um sogenannten Bindezauber. Man will das Schicksal einer Person an eine übermenschliche, göttliche Macht binden», sagt Lau. In der Antike waren dies oft Gottheiten und Totengeister der Unterwelt.

Flüche für Prozesse, Wettkämpfe oder die Liebe

Unter diesen schriftlichen Flüchen hat die Forschung fünf Typen identifiziert. Den ersten Typ bilden die Prozessflüche. «Sie sollen in einem juristischen Prozess dem gegnerischen Anwalt schaden, etwa Zustände von Verwirrtheit auslösen und den Ausgang der Verhandlung zu Gunsten der Person beeinflussen, die den Fluch ausspricht», sagt Lau.

Es sollen gebunden sein Thersilochos, Oinophilos, Philotios und wer sonst ein Anwalt auf der Seite von Pherenikos ist, bei Hermes, dem Unterirdischen, und Hekate, der Unterirdischen. Seele, Verstand, Zunge und Pläne des Pherenikos und das, was er in Bezug auf mich tut und plant, alles möge ihm widerstrebend sein und denen, die mit jenem planen und handeln.

Die zweite Gruppe bilden die Wettkampfflüche, die man etwa im Sand von antiken Arenen und Stadien vergraben findet. Dabei seien etwa die Pferde der gegnerischen Rennpartei oder der gegnerische Wagenlenker verflucht worden, sagt Lau. Oft hätten die Leute mit solchen Flüchen wohl auch versucht, ihrem Wettglück auf die Sprünge zu helfen. Damit es ja das richtige Gespann trifft, seien manchmal auch die passenden Pferdehaare an die Fluchtafeln geheftet worden.

Ich beschwöre dich, wer immer du nun bist, Geist eines unzeitig Gestorbenen, […] damit du die Pferde der Blauen und die der verbündeten Grünen fesselst […]; binde ihnen den Lauf, die Beine, den Sieg, die Stärke, den Mut, die Schnelligkeit, zerleg, mach sie verrückt, renk ihnen die Glieder aus […]; damit sie morgen weder im Circus laufen noch um [die Wendemale] gehen, noch siegen […].

Der dritte Fluchtyp sind Wirtschaftsflüche. Bei solchen Flüchen zielt die Verfluchung auf das wirtschaftliche Auskommen, das Geschäft und den Besitz des Verfluchten. «Da gibt es zum Beispiel die Geschichte eines Ehepaars, das in Athen eine offenbar gut laufende Taverne besitzt. Ein Gast oder vielleicht auch ein Konkurrent verflucht sie und bittet einige der Unterweltsmächte ihnen alles zu zerstören», beschreibt Markus Lau.

Ihr der Erde zugehörigen Gottheiten Hekate, Artemis und Hermes: Schüttet euren Hass auf Phanagora und Demetrios, auf ihre Taverne, ihren Besitz und ihre Besitztümer. Ich werde meinen Feind Demetrios und Phanagora in Blut und Asche binden, zusammen mit allen Toten […].

Liebeszauber bilden die vierte Gruppe. Dabei wird einerseits um die Trennung eines Paares oder die Anziehung einer gewünschten Person gebeten. Ein Liebesfluch soll helfen, die angebetete Person geradezu in Liebe zu entflammen.

Ich binde euch mit den unauflöslichen Banden des unterirdischen Schicksals und der mächtigen Notwendigkeit, denn ich beschwöre euch, Dämonen, […] die ihr hier liegt […] bei dem unbesiegbaren Gott Iaô Barbathiaô brimiaô chermari; erhebt euch […] und sucht Euphemia […] für Theon […]. Die ganze Nacht hindurch soll sie nicht schlafen können, sondern treibt sie, bis sie zu seinen Füssen kommt, liebend mit wahnsinniger Liebe und Zuneigung und Verkehr. Denn ich habe sie gebunden, Gehirn und Hände und Unterleibsorgane und Geschlechtsorgane und Herz, um mich, Theon, zu lieben […].

Die letzte Kategorie bilden sogenannte Gebete um Gerechtigkeit. «Dabei geht es um Kleinkriminalität und alltägliche Gemeinheiten», sagt Lau. Etwa, wenn jemand Opfer eines Diebstahls geworden sei. «Diese Verbrechensflüche waren ein probates Mittel für Situationen, in denen eine Person subjektiv erlebtes Unrecht erfährt.» Typisch für solche Verbrechensflüche seien inklusive Formulierungen, da oft nicht bekannt gewesen sei, wer das Übel verrichtet hatte und der Fluch auch ja die richtige Person treffen sollte.

Wer immer den Besitz des Varenus gestohlen hat, ob Mann oder Frau, lasst ihn mit seinem eigenen Blut bezahlen. Von dem Geld, das er zurückzahlen wird, wird eine Hälfte an die Gottheiten Merkur und Virtus gestiftet.

Solche Gebete um Gerechtigkeit seien im Gegensatz zu den anderen Fluchtafeln zuweilen öffentlich sichtbar in Tempeln aufgehängt worden. In Steine eingeritzte Beichtinschriften zeigten, dass die Gerechtigkeitsgebete durchaus funktioniert hätten: Habe sich beispielsweise ein Dieb in einer öffentlich aufgehängten Fluchtafel wiedererkannt, habe er seine Tat auf diese Weise öffentlich den Göttern gebeichtet und gehofft, dass ihn der Fluch dann nicht trifft. Und andersherum: «Wusste ein Dieb vom Fluch gegen ihn, interpretierte er es als Strafe der Götter für sein Fehlverhalten, wenn ihm etwas Schlechtes widerfuhr», sagt der Theologe.

Zumindest ein bisschen Handlungsmacht

Das sei allerdings ein Sonderfall. «Bei den anderen Flüchen wissen wir nicht, ob sie funktioniert haben. Aber man kann annehmen, dass sie zumindest für diejenigen, die sie formulierten, eine hilfreiche Bewältigungsstrategie waren», so Markus Lau. Anstatt passiv zu bleiben, gebe die Möglichkeit, einen Fluch auszusprechen, der betroffenen Person zumindest etwas Handlungsmacht.

Auch biete das Einritzen des Textes in die Bleitafel eine Möglichkeit, innere Affekte und Emotionen körperlich auszudrücken. Die Tafeln seien auch durchstochen, gefaltet und gerollt worden oder etwas wurde darin eingeschlagen. Manchmal wurden den Tafeln auch mit Nägeln durchstochene Zauberpuppen beigelegt.

Mit den Fluchtafeln wurde also rituell agiert. «Zum Ritual gehört auch, die Fluchtafel an einen bestimmten Ort zu bringen», sagt Lau. Neben Gräbern und Sportstätten waren das unter anderem bestimmte Tempel, bei denen die Fluchenden erwarteten, dass ihnen dort besonders gut geholfen wird. Liebesflüche indes sollten möglichst nahe bei der oder dem Angebeteten sein und wurden häufig in Häusern versteckt. 

 

Solche Zauberpuppen wie diejenige aus dem Heiligtum der Isis und Mater Magna in Mainz wurden mit Fluchtafeln gefunden und weisen oft, wie diese hier, Einstichstellen auf. | Foto: Wikipedia

 

Gerade die späten in Vulgärlatein und mit vielen Grammatik- und Rechtschreibfehlern verfassten Texte zeigten, dass die Flüche nicht von Angehörigen der Bildungselite stammten, sondern zur Alltagskultur der kleinen Leute zählten. «In den Gerechtigkeitsgebeten wird meist auch der Verlust von Alltagsgegenständen von geringem Wert beklagt», sagt Lau.

Dass die Flüche der «Welt der normalen Leute» entstammten, sei fürs Neue Testament besonders interessant. «Damit sind wir nahe am Alltag der frühen Christinnen und Christen und der Personen des Neuen Testaments, wie dem Apostel Paulus oder dem Ehepaar Priska und Aquila», so Lau. Insofern sei das Wissen um das Verfluchen in der Antike erhellend für einige Stellen des Lukasevangeliums, der Apostelgeschichte und der Briefe des Paulus, auch wenn Fluchtafeln nirgends direkt erwähnt würden.

Abstraktes wird konkret

So etwa die Stelle im sechsten Kapitel des Lukasevangeliums, wo es heisst: «Liebt eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen! Segnet die, die euch verfluchen; betet für die, die euch beschimpfen! Dem, der dich auf die eine Wange schlägt, halt auch die andere hin und dem, der dir den Mantel wegnimmt, lass auch das Hemd! Gib jedem, der dich bittet; und wenn dir jemand das Deine wegnimmt, verlang es nicht zurück!» (Lk 6,27–30)

Was zunächst abstrakt wirkt, wird konkret, wenn man die Fluchtafeln bedenkt. «Dass einem das Obergewand weggenommen wurde, kommt in den Gebeten um Gerechtigkeit vor», erläutert Markus Lau. Und auch die Möglichkeit, dass man verflucht wird, bedenke der Text.

Ein Ratschlag zum Überleben

Lukas stelle sich hier ganz im Sinne der Feindesliebe Jesu dagegen, in einer solchen Situation ein Fluchgebet auszusprechen und Fluch mit Fluch zu vergelten beziehungsweise auf erlebtes Unrecht mit einem Verbrechensfluch zu reagieren. Stattdessen fordere er zum Segnen auf. «Während man beim Fluchen jemandem Schlechtes wünscht, stellt das Segnen die Person unter den Schutz und in die Heilssphäre Gottes», sagt Lau. Damit gelinge es letztlich auch, die Logik der Gegenseitigkeit zu durchbrechen.

Hinter der Aufforderung stecke eigentlich ein Ratschlag zum Überleben. «Es ist eine Bewältigungsstrategie angesichts der Unrechtserfahrungen durch das römische Imperium, die die Leute in dieser Zeit machen mussten.» Indem sich jemand geradezu provokativ als hilflos zeige und sogar mehr tue, als der Peiniger verlange, komme der Peiniger ins Nach- und Umdenken.

Und so verschaffe auch das Segnen einem Opfer wieder Handlungsmacht. Vor dem Hintergrund der Fluchtafeln gelesen, merke man deutlicher, dass Lukas hier zu einer neuen kreativen Art des Umgangs mit dem Gegenüber auffordere, so Lau.

Fluchen tut gut

Davon, dass das Fluchen ursprünglich etwas mit dem Einbezug einer übermenschlichen Kraft zum Schaden Dritter zu tun hatte, seien heute nur noch Reste in unserer Sprache erhalten: Nämlich bei allem, was mit dem Wort «verdammen» zu tun hat, wie etwa «Gopfertami». Was die Antike sicher mit der Gegenwart verbinde, sei, dass das Fluchen der Person guttue, die es tue. Markus Lau formuliert es so: «Auch heute noch kann Fluchen punktuell entlastend wirken und dient als Bewältigungsstrategie für Situationen, in denen man sich sonst auf den ersten Blick kaum zu helfen weiss.»

 

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