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Menschenrechte

«Für die Menschen im Iran gibt es kein Zurück»

von Anouk Holthuizen / reformiert.info
min
18.09.2023
Am 16. September jährt sich der Todestag von Jina Mahsa Amini. Seither kämpfen viele Iraner für das Ende des brutalen Regimes. Der Verein Free Iran Switzerland unterstützt sie.

Saghi Gholipur, am 16. September, ist es ein Jahr her, seit die kurdische Iranerin Jina Mahsa Amini starb. Die iranische Sittenpolizei hatte sie wegen eines verrutschten Kopftuchs verhaftet und brutal misshandelt. Was wird morgen im Iran geschehen?

Im Iran und auf der ganzen Welt sind Proteste geplant. Das Regime wird darauf mit massiver Gewalt reagieren, die Repressionskräfte sind seit Tagen auf den Strassen präsent. Viele, die im letzten Jahr auf die Strasse gegangen waren, sind getötet und verhaftet worden. In den vergangenen Wochen sind nun auch zahlreiche ihrer Angehörigen in den Foltergefängnissen des Regimes verschwunden. Das Regime ist sichtlich nervös.

Dem Wunsch vieler Iranerinnen und Iraner nach mehr Freiheit gibt das Regime in keiner Weise nach, im Gegenteil: Im August hatte eine Kommission des iranischen Parlaments sogar eine Verschärfung der Kopftuch-Regeln mit drakonischen Strafen bei Nichteinhalten beschlossen. Glauben Sie noch an eine Wende?

Ja. Menschen aus allen Schichten und allen Alters sind entschlossener denn je, für ihre Freiheit zu kämpfen. Die junge Generation sieht ohnehin keine Zukunft mehr in diesem Land. Sie sagt sich: «Wenn wir hier keine Zukunft haben, können wir genauso gut auf die Strasse gehen und sterben.» Die Generation Z weiss, wie die Welt aussehen kann, sie sehen es im Internet, auf den sozialen Medien. Sie wollen auch frei leben. Das Regime hat jede Legitimität verloren, für die Menschen im Iran gibt es kein Zurück mehr. 

Iranerinnen und Iraner protestierten immer wieder auf der Strasse. Beispielswiese 2019 wegen steigender Benzinpreise. Damals gelang es dem Regime, die Proteste zu ersticken.

Dieses Mal ist es anders. Alle wissen: Was Jina Mahsa Amini passiert ist, hätte jeder Frau im Iran zustossen können. Fast jede Iranerin wurde schon von der Sittenpolizei blöd angemacht. Jina symbolisiert drei Dinge: Erstens, wie schwierig es im Iran ist, Mensch zu sein, egal ob du eine Frau oder ein Mann bist. Zweitens zeigt ihr Fall den institutionalisierten Sexismus. Drittens die schlechte Ausgangslage von Minderheiten. Die grosse Mehrheit im Iran hat genug von diesem menschenfeindlichen System. 

Solange Frauen nicht frei sind, ist niemand frei. Unter den Strukturen eines patriarchalen Systems leiden auch die Männer.

Erstmals solidarisieren sich auch die Männer in grossem Umfang mit den Frauen. Was steckt dahinter?

Die Menschen realisieren: Solange Frauen nicht frei sind, ist niemand frei. Unter den Strukturen eines patriarchalen Systems leiden auch die Männer. Auch viele konservativ denkende Menschen haben sich der Protestbewegung angeschlossen. Eine Bekannte im Iran erzählte mir, dass ihre Nachbarin, die von ihrem Ehemann in sämtlichen Tätigkeiten streng kontrolliert wurde, nun allein auf die Strasse geht – für diese Familie ist das schon eine Revolution. In vielen Familien hat ein Wandel stattgefunden. 

In den letzten Monaten haben die sichtbaren Demonstrationen aber zahlenmässig stark abgenommen. Wo findet der Widerstand statt?

Die Proteste haben sich verlagert. Nachts werden Parolen aus den Fenstern gerufen oder es wird gestreikt. Und das in allen Ecken des Landes. Auch die Wirtschaftsmisere trägt dazu bei, dass die Menschen ihren Unmut zu äussern wagen. Es geht um ihr Überleben. Viele Frauen tragen nicht nur ihr Kopftuch nicht mehr richtig, sie nehmen es schon nicht mal mehr mit – trotz den absurd hohen Strafen, die sie erwarten. 

Sie sind Präsidentin des in Zürich ansässigen Vereins Free Iran Switzerland, der im Oktober gegründet wurde und mit Kundgebungen auf die Situation im Iran hinweist. Was kann der Verein bewirken?

Unser Ziel ist es, die Stimmen der Iranerinnen und Iraner in die Welt hinauszutragen. In der Schweiz möchten wir durch die Anlässe den Handlungsdruck auf die Politik erhöhen. Unzählige Menschen beweisen enormen Mut. Wir müssen ihnen doch helfen!

Was soll diese tun?

Die Schweiz soll sich endlich an den Sanktionen, wie sie die EU bereits erlassen hat, anschliessen. Die Islamische Republik muss isoliert werden. Wir fordern, dass die Bankkonten von Regimeangehörigen und ihre Familienmitglieder sofort gesperrt werden und diese nicht mehr in der Schweiz einreisen dürfen. Der Nationalrat hatte dies im Frühling gefordert, der Ständerat berät das Geschäft in der laufenden Herbstsession. Solange das Regime Geld hat, um die Repressionskräfte zu zahlen, werden diese weiterhin ihr Unwesen treiben. 

Das Argument war, dass man die diplomatischen Türen offenhalten will, um mit dem Regime in Kontakt zu bleiben und so Einfluss zu nehmen. 

Aber die Entwicklungen zeigen doch, dass dies absolut nichts nützt! Im Gegenteil: Es wird immer schlimmer. Statt die massiven Menschenrechtsverletzungen nur im Rahmen diplomatischer Beziehungen zu besprechen, gehört die Revolutionsgarde endlich auf die Liste der Terrororganisationen. Wir verlangen, dass die Schweizer Politik endlich Haltung zeigt. 

 

Saghi Gholipur

Saghi Gholipour ist Politikwissenschaftlerin in Zürich. Die Eltern der 39-Jährigen sind 1986 während des ersten Golfkriegs aus dem Iran in die Schweiz geflohen.

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