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Jugendarbeit im Solothurnischen Leimental

«Gewalt kommt aus der Mitte der Gesellschaft»

von Tilmann Zuber
min
15.07.2024
JASOL, die Jugendarbeit im Leimental, thematisierte an einer Veranstaltung in Bättwil die Jugendgewalt. Eingeladen war Ueli Mäder. Der Soziologe riet, statt rasche Lösungen zu suchen, das Umfeld der Jugendlichen genauer zu betrachten.

Die Zahlen lassen aufhorchen: Im vergangenen Jahr gab es in der Schweiz 11 Prozent mehr Jugendurteile als 2022. Besonders auffällig: Laut dem Bundesamt für Statistik gibt es vor allem mehr Straftaten von unter 15-Jährigen.

Vor diesem Hintergrund organisierte die Jugendarbeit JASOL eine Veranstaltung in Bättwil. Zahlreiche Interessierte, darunter Lehrerinnen und Lehrer, Politiker und Pfarrer, fanden sich im Oberstufenzentrum Leimental ein. Der Abend stand unter dem Titel «Gewalt – zivil couragiert angehen».

Eingeladen war der Basler Soziologe Ueli Mäder. Mäder beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem Thema. Vor zwanzig Jahren verfasste er eine Studie über gewalttätige und gewaltbetroffene Jugendliche. Seither sei er als Handlungsreisender in dieser Sache unterwegs, stellte sich Mäder vor.

 

Der Soziologe Ueli Mäder Ueli Mäder wünscht sich
von der Gesellschaft, den Schulen und den Eltern
mehr Zeit und mehr Verständnis für die Anliegen
der Jugendlichen. | Foto: Zuber

Wenn Jugendliche andere zusammenschlagen oder berauben, rufe die Öffentlichkeit sofort nach Massnahmen. «Meist ohne Plan», so Mäder. Der Soziologe rät, nicht nach schnellen Lösungen zu suchen, sondern zuerst über die Ursachen nachzudenken. Das sei zielführender.

Bei Vorfällen schrecke die Öffentlichkeit auf und diskutiere über Täter und Tat. Die gesellschaftlichen Hintergründe stünden kaum im Fokus. Dabei, so die Studien von Ueli Mäder, komme die Jugendgewalt aus der Mitte der Gesellschaft und aus der Mitte der Gemeinden. «Wer im unteren Einkommensbereich lebt, ist stärker betroffen», sagt Mäder. Oft seien es Jugendliche mit Migrationshintergrund. Als Mäder die Ergebnisse seiner Studie veröffentlichte, titelte die Presse «Schweizer Jugendliche klauen, ausländische Jugendliche hauen».

Das Umfeld einbeziehen

Ueli Mäder rät, das soziale Umfeld der Täter zu betrachten. Untersuchungen in den Banlieues in Frankreich haben zum Beispiel gezeigt, wie sehr Jugendliche an bürokratischen Hürden und sozialer Ausgrenzung scheitern. Der Soziologe empfiehlt auch zu fragen, was Jugendliche bei der Gewalt erleben. Meist gibt sie ihnen den Kick und die Anerkennung einer verschworenen Gemeinschaft. Zum Beispiel unter Fans eines Fussballmatchs oder beim Abhängen am Bahnhof.

Die organische Gemeinschaft, wie sie noch vor 40 Jahren existierte, hat sich zu einer mechanischen Gesellschaft entwickelt.

Und drittens weist der Soziologe auf die gesellschaftlichen Normen hin. Jugendliche lebten heute in einer Gesellschaft, die von einer «eng geführten Vernunft» dominiert werde. «Die organische Gemeinschaft, wie sie noch vor 40 Jahren existierte, hat sich zu einer mechanischen Gesellschaft entwickelt», so Mäders These.

Früher habe es eine starke soziale Kontrolle gegeben, aber die Jugendlichen seien in einem Umfeld aufgewachsen, das ihnen mehr Freiheit, Beziehungen und Zukunftsperspektiven geboten habe. Heute sei die Gesellschaft individualisiert, anonym, Kontakte fänden digital statt und viele Jugendliche sähen wenig Sinn in der Konkurrenz- und Geldgesellschaft.

Mehr Zeit

Ueli Mäder wünscht sich von der Gesellschaft, den Schulen und den Eltern mehr Zeit und mehr Verständnis für die Anliegen der Jugendlichen. Die Entdeckung der Langsamkeit helfe, genauer hinzuschauen und Beziehungen aufzubauen. «Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen», zitierte Ueli Mäder ein afrikanisches Sprichwort. «Und es braucht eine Haltung und ein soziales Miteinander.»

Heute ist es für Jugendliche schwieriger, sich einzubringen und ihre Ideen zu realisieren.

Niggi Studer, Jugendarbeiter bei JASOL, fand in Mäders Ausführungen einige wichtige Impulse. Auch das idyllische Leimental sei vor Sucht- und Gewaltproblemen nicht gefeit. JASOL (Offene Jugendarbeit Solothurnisches Leimental) ist eine Initiative der reformierten Kirche Solothurnisches Leimental.

Die Zusammenarbeit zwischen Kirche und politischen Gemeinden sei einzigartig, sagt Studer. 30 Prozent der Kosten von JASOL trägt die Kirche, 70 Prozent die Gemeinden Bättwil, Hofstetten-Flüh, Metzerlen-Mariastein, Rodersdorf und Witterswil. Niggi Studer ist seit den Anfängen vor 17 Jahren dabei.

Potenzial der Jugendlichen

Bemerkenswert ist auch der Ansatz in der Jugendarbeit. JASOL setzt ganz auf das Potenzial der Jugendlichen und hilft ihnen, ihre Ideen, Pläne und Bedürfnisse umzusetzen. Heute sei es für Jugendliche schwieriger, sich einzubringen und ihre Ideen zu realisieren, meint Studer. Hinzu käme, dass in vielen Familien beide Elternteile berufstätig sind und dadurch die Zeit für die Kinder fehlt.

Das Motto der Unterstützung von JASOL lautet: «So viel wie nötig – so wenig wie möglich». Die Jugendlichen sollen ihre Projekte selbstständig angehen. Mit Erfolg. Die Website von JASOL zeigt, wie vielfältig und spannend die Projekte und Veranstaltungen der Jugendlichen sind. Und immer neue Ideen kommen hinzu.

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