Glatzköpfiges Christkind
Wenn ich an meine Oma denke, die vor zwei Monaten gestorben ist, dann kommt mir Weihnachten in den Sinn. Ihr Lieblingsfest. Und meines auch.
Ich erinnere mich an den grossen Baum, der stattlich und elegant neben dem Flügel im Musikzimmer stand. Mein Bruder und ich warteten im Schlafzimmer unserer Grosseltern vor dem Fernseher, während der Baum zu Ende geschmückt wurde und sich wie von Zauberhand Geschenke darunterlegten. Irgendwann klingelte ein feines Glöcklein: das Zeichen des Christkinds.
Wir stürmten ins Wohnzimmer, assen die Hildabrötchen, die herumgereicht wurden, und bestaunten den Baum, von dessen Spitze goldenes Engelhaar hing. «Das ist vom Christkind», erklärte mir meine Oma Jahr für Jahr. «Das Christkind fliegt durch das Fenster und lässt ein paar Strähnen seines Haares zurück. Als Andenken.»
Ich fand das ziemlich grosszügig vom Christkind, denn es schien nicht nur ein paar Strähnen zurückzulassen, sondern in der Tat seine ganze Haarpracht. Als ich nachhakte, erklärte mir mein Onkel gutmütig, na ja, das Christkind sei wohl jetzt glatzköpfig unterwegs.
Wann immer ich seither ans Christkind denke, fliegt es mit einer unsauberen Glatze, an der noch ein paar traurige Haarsträhnen hängen, von Weihnachtsbaum zu Weihnachtsbaum. Nur den unseren beschert es mit seiner Haarpracht. Ich stelle mir gern vor, dass das Christkind meine Oma einfach sehr liebhatte und ihr ein Stück von sich dalassen wollte.
Glatzköpfiges Christkind