«Gott will uns als Engel losschicken»
Peter Schulthess, Sie haben in -Inseraten dazu aufgerufen, dass Leute Ihnen ihre Engelserlebnisse schildern. Warum?
Ich selbst hatte in den 80er-Jahren eine Erfahrung mit Engeln gehabt. Und in den 90er-Jahren herrschte in Sachen Engel ein Aufbruch, es entstanden Engelsläden und zahlreiche Bücher zur Thematik wurden publiziert. Andererseits spielt das Thema in der reformierten Tradition kaum eine Rolle.
Und das wollten Sie ändern?
Ja. Die Menschen sollten von ihren Erfahrungen mit Engeln erzählen. Das war ja ansonsten tabu. Ich wollte zudem herausfinden, ob diese Erlebnisse mit jenen in der Bibel korrespondierten.
Sie erhielten unzählige Rückmeldungen. Haben Sie das erwartet?
Nein, ich war überrascht. Ich hatte ja die Inserate in der regionalen Presse geschaltet und nicht in einer religiösen Zeitung. Trotzdem wurde ich von den Reaktionen beinahe überrollt.
Da können Sie mir sicher erklären, was ein Engel ist.
Ein Engel ist ein Bote Gottes, so wie es im Psalm 91 heisst: «Gott hat seinen Engeln befohlen, dich zu behüten auf allen deinen Wegen.» Ein Engel ist ein Abgesandter Gottes, der uns zur Seite steht.
Jetzt werden kritische Zeitgenossen einwenden, Engel seien lediglich das Produkt der Einbildung.
Wer so argumentiert, nimmt die Menschen nicht ernst, die solche Erfahrungen gemacht haben. Das ist nicht weiter erstaunlich. Wer dies nicht erlebt hat, dem fällt es schwer, nachzuvollziehen, dass sich da etwas ereignet hat, dass das Leben prägt und allenfalls verändert. Wenn man die Berichte über Engel verfolgt, stellt sich doch die Frage, woher diese Bilder und Erlebnisse stammen.
Hat der moderne Mensch mehr Schwierigkeiten, mit der Realität der Engel umzugehen?
Nein, ich denke, viele getrauen sich nicht, darüber zu reden. Sie befürchten belächelt und blossgestellt zu werden. Ein intellektualistischer Mainstream, der sich auch in den Medien findet, verhindert, dass die Leute über ihre Erfahrung reden. Sie trauen sich schlichtweg nicht.
Auffallend ist, dass die Engel und Boten Gottes an allen wichtigen -Stellen der Bibel vorkommen.
In der Kirche und Theologie ist ihre Rolle hingegen marginal. Warum
ist dies so?
Ich weiss es nicht. Engel tauchen in der Bibel an den Wendepunkten auf. Diese Schlüsselszenen definieren und interpretieren, wer Jesus Christus ist. Das machen nicht die Theologen. So künden die Engel den Hirten die Geburt des Messias an und erklären Maria und Josef, dass sie ihren Sohn Jesus nennen sollen. Jesus stand im engen Kontakt mit Engeln, sie begleiteten ihn, sei es in der Versuchungsgeschichte oder im Garten Gethsemane, wo sie ihn trösteten.
Warum haben Engel in der Theologie nicht einen prominenteren Platz?
Vermutlich hat dies mit der Entmythologisierung zu tun. Im Zuge der Aufklärung und der Naturwissenschaften erklärte man Engel zum Mythos, die nicht fassbar und real sind. Sie passen nicht ins intellektuelle und aufgeklärte Denken. In der Volksseele hingegen haben sie ihren Platz.
Braucht die Kirche mehr Engel?
Nein, aber man soll die Engel in der Verkündigung nicht auf der Seite lassen. In der Weihnachtsgeschichte verkünden die Engel den Menschen grosse Freude, über diese Freude sollte man reden. Man darf die Engel in die Botschaft einbeziehen, Zentrum des Glaubens aber ist Jesus Christus.
Engel sind auch ein Symbol, dass
Gott ins Leben eingreift.
Der Theologe Dietrich Bonhoeffer bringt dies in einem Gedicht eindrücklich zum Ausdruck: «Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist mit uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.»
Verändert es das Leben, wenn
man auf diese wunderbaren Mächte vertraut?
Für mich ist es eine grosse Hilfe, wenn ich weiss, dass mich eine unsichtbare Hand durch alles begleitet und mich ermutigt, stärkt und tröstet. Gott steht an unserer Seite, aber wir werden nicht vor allem bewahrt, wir sind der Welt mit all ihren Schwierigkeiten und der Vergänglichkeit unterworfen.
Glauben Sie an einen Schutzengel?
Ich glaube an Engel, die einen begleiten, im Leben und über den Tod hinaus. Manchmal schützen sie einen, manchmal nicht.
Lassen sich die Begegnungen mit Engeln herstellen?
Die Berichte zeigen, wie überraschend die Engel einem begegnen, selbst Menschen, die nicht religiös sind. Etwa einem Mann, der nichts von der Kirche und den Pfaffen hielt. Als er im Spital im Sterben lag, sagte er auf einmal, ich sehe Licht. Er wiederholte dies immer wieder. Und als ihn eine Verwandte aufforderte, er solle doch einen neuen Schlafanzug anziehen, erwiderte er: «Das brauche ich nicht, ich bekomme ein Federkleid.»
Wenn man Engel googelt, landet man rasch bei der Esoterik. Dort nehmen Medien den Kontakt zu den Engeln auf.
Der reformierte Glaube besagt, dass jeder eine direkte Verbindung zu Gott haben kann. Die Reformatoren forderten, lest die Bibel und wendet euch direkt an Gott. Deshalb braucht es kein Medium. Natürlich gibt es auch im Christentum Geistbegabte, die Prophetisches weitergeben. Doch es bleibt die Frage: Mit wem verbindet mich ein Medium? Wenn ich hingegen telefoniere, steht ja fest, mit wem ich spreche.
Sie haben zahlreiche Erlebnisse mit Engeln gesammelt. Welche sind die eindrücklichsten?
Da gibt es einige. Besonders jenes eines Mannes, der auf einer Kulturreise durch die USA einen Wasserfall besuchte. Als Schweizer, der oft grossartige Wasserfälle gesehen hatte, war er natürlich enttäuscht, wie mickrig der war. Als er den Ort verlassen will, sieht er im Wasserfall einen riesigen Engel, der zu ihm sagt: «Ich sehe deinen alten Beziehungsschmerz, lass ihn jetzt los.» In dem Moment ergoss sich aus dem Wasserfall ein grosses Licht über und durch ihn und heilte sein Leiden. Er habe danach nie mehr diesen Schmerz gespürt, erzählte der Mann später. Mir fiel in diesem Moment die Verheissung ein: «Gott heilt die, die zerbrochenen Herzens sind.»
Können wir uns gegenseitig zum Engel werden?
Unbedingt. Gott will uns als Engel losschicken. Er will, dass wir uns für ihn zur Verfügung stellen. Und das kann jeder, unabhängig von seiner sozialen Stellung.
Inwiefern? Was meinen Sie mit der sozialen Stellung?
Dazu ein Erlebnis: Eine junge Frau sass im Stossverkehr im Bus und fuhr durch Winterthur. Sie hatte vor kurzem erfahren, dass sie schwanger war. Von einem verheirateten Mann, der nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte. Die Frau war enttäuscht und traurig. In diesem Moment stieg ein Obdachloser in den Bus, der nach Alkohol stank, legte seine Hand auf ihren Bauch und sagte zu ihr: «Du wirst eine gute Mutter.» Dieses Erlebnis war für die Frau einer der Gründe, ihr Kind auszutragen.
In Ihrem Buch gebrauchen Sie den Begriff «Engelsschule». Sie vergleichen diese mit einer Liebesschule.
Geteilte Freude ist doppelte Freude. Jesus sagt, liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Wenn wir jemandem helfen können, sind wir glücklich. Es tut gut, wenn wir in unserem Leben aufmerksam sind und erkennen, wo wir gebraucht werden. Das erfüllt uns und gibt unserem Leben einen Sinn. Der verwahrloste Mann, dessen Leben nicht gut verlief, wurde für die Frau zum Engel. Gott brauchte ihn, um der jungen Mutter Mut zu machen. Ist es nicht wunderbar, wie Gott alles brauchen kann, damit es sich zum Guten wendet?
Das radikale Gebot der Nächsten-
liebe und Gottesliebe droht uns zu überfordern. In einer Engelsschule dürfen wir Fehler machen und Neues lernen.
Gnädig und barmherzig ist unser Gott. Wir müssen vor Gott nicht perfekt sein, dürfen Fehler machen und es wieder von Neuem wagen. Jesus bezeichnete seine engsten Anhänger als Jünger, als Lehrlinge. Und Gott nennt uns Kinder Gottes. Als Kinder dürfen wir lernen. Dieser Gedanke ist für mich tröstlich und ermutigend.
Interview: Tilmann Zuber, 23.11.2020, Kirchenbote
«Gott will uns als Engel losschicken»