Grosser Anspruch an demokratische Abläufe
Ganze 31 Seiten umfassten die Vorschläge des ersten Schweizer Flüchtlingparlaments vor der Session vom 6. Juni. Da ist verständlich, dass Sylvia Valentin, bei Terre des hommes Schweiz für entwicklungspolitische Kampagnen zuständig, schon die Vorarbeit als «sehr beeindruckend» empfand. Seit Ende April hatten sich dafür rund 75 Geflüchtete aus 19 Kantonen und 15 Ländern in 9 Kommissionen online ausgetauscht.
Am Tag der Session – «das war eine Riesenkiste und super organisiert», sagt Valentin – war sie noch einmal verblüfft von den «riesigen Ansprüchen» an demokratische Abläufe. Und: «Ausserdem versuchten die Teilnehmenden immer realistisch zu sein. Es gab eine grosse Bereitschaft, die Systemprobleme zu sehen und zu akzeptieren, dass manche Sachen kaum zu bewegen sind.»
Lehre abschliessen können wäre wichtig
Wo es aber Hoffnung gibt, hat das Parlament Forderungen formuliert. Dazu gehören die Möglichkeit von Familienbesuchen im Schengen-Raum für vorläufig Aufgenommene, verbesserten Zugang zu Bildung für Geflüchtete und die Möglichkeit, eine angefangene Lehre auch bei einem negativen Asylentscheid abschliessen zu können. «Das wäre extrem wichtig, aber gerade erst hat der Ständerat leider eine entsprechende Motion abgelehnt», sagt Sylvia Valentin. Doch gebe es Politikerinnen und Politiker, die weiter dranblieben.
Weiter hat sich das Flüchtlingsparlament für einen erweiterten Familiennachzug ausgesprochen: Kinder sollen ihre Eltern in die Schweiz holen dürfen. Und Kinder in der Schweiz sollten unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus in erster Linie als Kinder und altersgerecht behandelt werden.
Jetzt sollen sie selbst reden können
Teilnehmende, Gäste und unterstützende Organisationen betonten die hauptsächliche Idee des Flüchtlingsparlaments im Laufe des Tages immer wieder: Über Geflüchtete wird viel geredet – aber nach ihren eigenen Ideen werden sie kaum gefragt. Der Geflüchtete Amine Diare Conde, der den Dialog während der Session moderierte, sagte: «Ab heute werden die Stimmen der Geflüchteten nicht mehr ignoriert. Sie möchten mitdenken und mitreden, weil sie direkt erleben, wie unser Asylwesen funktioniert – oder auch nicht.»
Und gemäss einer Mitteilung von Terre des hommes Schweiz beschreibt der junge Sayed N. aus Afghanistan nach beinahe fünf Jahren in der Schweiz seine Situation so: «Unser Leben ist wie ein Schiff auf einer stürmischen See in der Hoffnung, einen sicheren Hafen zu finden. Den Hafen haben wir in der Schweiz gefunden, aber leider können wir nicht hier anlegen.» Er musste selbst eine angefangene Lehre nach dem negativen Asylentscheid abbrechen.
Stimme zu hören, ist wichtig für Gesellschaft
Die Forderungen stiessen bei den anwesenden Bundesparlamentsmitgliedern auf Verständnis. Einzelne Anliegen versprachen sie weiterzuverfolgen. So meinte etwa die Zürcher SP-Nationalrätin Céline Widmer: «Die Härtefallgesuche werden je nach Kanton unterschiedlich umgesetzt. Es braucht Möglichkeiten zur Regularisierung in jedem Kanton, sodass viel mehr Härtefallgesuche möglich sind – das ist gut sowohl für die Betroffenen wie auch für die Schweiz.»
Daniel Winkler, in der Flüchtlingsarbeit engagierter Pfarrer in Riggisberg, ist von der Wichtigkeit des Flüchtlingsparlaments überzeugt. «Es ist ein Schritt auf dem Weg, Flüchtlinge besser in den gesellschaftlichen Dialog einzubinden.» Als Beispiel nennt er Menschen, die über Jahre von Nothilfe leben. Diese hätten nicht die geringste Partizipationsmöglichkeiten am gesellschaftlichen Leben, dürften nicht arbeiten, hätten keinerlei Freiheit, keine Sicherheit und Zugehörigkeit. «Zu sagen, sie seien an ihrem Schicksal selber schuld und sie seien renitent, greift zu kurz», sagt Winkler. Ihre Stimmen zu hören, sei für unsere Gesellschaft eminent wichtig.
Vorschläge werden öffentlich präsentiert
Das Projekt wurde vom National Coalition Building Institute (NCBI) Schweiz initiiert. Der konfessionell und parteipolitisch neutrale Verein setzt sich für den Abbau von Vorurteilen, von Rassismus und Diskriminierung jeglicher Art ein. Unterstützt wird das Flüchtlingsparlament von UNHCR Schweiz, der Schweizerische Flüchtlingshilfe, Terre des hommes Schweiz, dem Bereich OeME-Migration der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn, dem Eritreischen Medienbund, Bildung für alle – jetzt! und weiteren Integrations- und Migrationsorganisationen.
Am 21. Juni 2021 abends werden Ergebnisse der Flüchtlingssession der interessierten Öffentlichkeit in der Dreifaltigkeitskirche in Bern präsentiert. Ziel ist es, dass die Vorschläge der Flüchtlingsparlamentarierinnen und -parlamentarier nachhaltig in die politischen und öffentlichen Debatten einfliessen.
Marius Schären, reformiert.info
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