«Hast du deine Engelsflügel mitgebracht?»
Wenn Rosemarie Krüttli zu einem Einsatz unterwegs ist, fällt sie auf: Pastellgrüne Hosen schlabbern um ihre Beine, Blumen schmücken ihr hochgestecktes Haar und in der Hand trägt sie einen Korb, der mit Girlanden verziert ist. Die Leute winken und bleiben stehen. Ein Velofahrer ruft: «He Summervögeli!» Die 78-Jährige «Huusglönin» fällt auf. Regelmässig besucht Krüttli zusammen mit ihrem Auftrittspartner Fredy Buchmann behinderte und kranke Kinder zu Hause und Bewohner in Behinderten- oder Pflegeheimen.
«Niemand kommt ohne Humor auf die Welt»
Der Verein «Huusglön» wurde 2008 mit dem Ziel gegründet, psychisch oder physisch beeinträchtigten Menschen einen unbeschwerten Augenblick und ein Lachen zu schenken. Ein Jahr zuvor war die Gründerin und Sozialarbeiterin Silvia Rindlisbacher mit dem Arzt und Clown Patch Adams nach St. Petersburg gereist und hatte dort verschiedene Kinderspitäler, Waisenhäuser und Familien mit kranken Kindern besucht. Die Reise hatte Silvia Rindlisbacher tief beeindruckt. Sie beschloss, den Verein «Huusglön» in der Schweiz ins Leben zu rufen.
«Niemand kommt ohne Humor zur Welt – und in allen steckt ein Clown», war Rindlisbacher überzeugt. 16 Clowninnen und Clowns sind heute in der ganzen Deutschschweiz als «Huusglön» unterwegs. «Die Leute verwechseln uns meist mit den bekannteren «Spitalglön» von der Theodora-Stiftung, die jedoch keine Hausbesuche machen», sagt Fredy Buchmann. Oft werden Buchmann und Krüttli für einen Auftritt an Geburtstagen angefragt. Im Vorfeld klären die beiden ab, an welchen Gebrechen die Kinder und Erwachsenen leiden. Sie erkundigen sich nach deren Lieblingsfarben und -tieren, ob sie gerne tanzen, singen und ob sich etwa vor Ballonen fürchten, die platzen könnten. Wenn die «Huusglön» an der Tür klingeln, reagieren die einen zurückhaltend und scheu, andere ausgelassen und fröhlich. Es brauche Zeit, bis das Eis bricht, sagt Krüttli. «Und die Zeit nehmen wir uns.»
Als ein kleines Mädchen Angst hatte und die Clowns nicht hineinlassen wollte, polierte Rosemarie Krüttli mit einem Lappen die Blätter im Garten. Neugierig streckte das Mädchen seinen Kopf hinaus, schmunzelte und liess die beiden hinein. Vieles bei ihren Auftritten beruhe auf Erfahrung und Intuition, sagt Fredy Buchmann. Erfahrung haben der 70-jährige Buchmann und seine Clown-Partnerin reichlich: Der Sozialpädagoge arbeitete im Baselstädtischen Erziehungsdepartement und absolvierte eine Clownschule. Rosemarie Krüttli arbeitete jahrzehntelang als Haushaltspflegerin, bevor sie eine Ausbildung als Clown und «Märlierzählerin» machte. «Den Entscheid habe ich bis heute nie bereut», fügt sie hinzu.
«In dieser Nacht hat mein Kind gut geschlafen»
Nach dem Besuch holen die beiden ein Feedback ein. Oftmals berichten die Eltern und Betreuer von der Freude – ihr Kind habe in dieser Nacht besonders gut geschlafen. Bei Schwerstbehinderten erkennt man die Reaktion nicht auf den ersten Blick. «Manchmal zeigen sie ihre Freude nur mit einem Augenaufschlag», sagt Buchmann. Die Schicksale, welche die «Huusglön» antreffen, gehen ans Herz. Einmal meldeten sich die Eltern einer Dreijährigen, die an einem Hirntumor litt. Man wusste nicht, wie lange das Mädchen noch leben wird. Im Spital hatte sie die Spitalclowns gesehen. Nun wünschte sie sich zum Geburtstag erneut den Besuch der Clowns. Wenn es der Kleinen schlecht ging, rief sie «ihre Clowns» an. Inzwischen hat das Mädchen den Krebs besiegt und geht in die Schule. Ihr Strahlen, ihre Freude und ihr Lachen haben Krüttli und Buchmann nicht vergessen.
Andere Geschichten enden traurig: Ein Mann, der nach einem schweren Motorradunfall gelähmt war, schrieb den «Huusglön»: «Bitte, bitte, nehmt mich in den Himmel mit.» Krüttli antwortete: «Ich kann dich nicht mitnehmen, aber wir beten, dass dies die Engel machen.» Kurz darauf starb er. – Ein andermal sagte ein krankes Kind zu Rosemarie Krüttli, die einen krummen Rücken hat: «Du hast schöne Engelsflügel. Kommst du mich holen?» – «Nein», meinte die Clownin, «ich habe meine Flügel schon eingepackt. Aber ich werde dich oft besuchen.»
25.8.2016, Tilmann Zuber
«Hast du deine Engelsflügel mitgebracht?»