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Heil und Heilung

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29.03.2023
Thomas Sonderegger ist Hausarzt der Inneren Medizin in einer Gemeinschaftspraxis in St. Gallen und wohnt in Speicher. Der gebürtige Appenzeller hat früh zu seiner Berufung als Arzt gefunden.

Sein verstorbener Grossvater hingegen war Pfarrer und in der Familie sehr präsent. Geprägt hat ihn auch der damalige Pfarrer von Speicher, der ihn konfirmierte, Pfarrer Hachfeld. Dessen Predigten gefielen ihm so sehr, dass er nie in eine Jugendandacht besuchte, sondern immer den Sonntagsgottesdienst. Eine seiner Schwestern studierte Theologie und war bis zu ihrer Pensionierung Pfarrerin in Norwegen. Eine seiner Töchter wirkt heute als Pfarrerin im Kanton Bern. Seine Faszination für Kirchenmusik pflegte er längere Zeit beim Orgelspiel.

Wie würden Sie als Arzt Gesundheit und Heilung voneinander unterscheiden?

Gesundheit hat einen medizinisch-biologischen und psychologischen Aspekt. Die Grundlagen der naturwissenschaftlichen Schulmedizin sind Physik, Biologie und darauf aufbauend die Anatomie. Beim sogenannten biopsychosozialen Modell sind es die ersten drei Kreise. Heilung hingegen hat für mich einen eher spirituellen, religiösen Touch. Das wäre dann der vierte Kreis, welcher mit der Spiritual Care dazugekommen ist.

Ich möchte dies gerne an zwei Extrembeispielen illustrieren. Wenn eine Person eine schwere Tumorerkrankung erleidet, macht sie jeweils verschiedene Phasen durch. Menschen können bis hin zu einem Punkt tiefer Annahme kommen. So kann diese Person Heilung erfahren, und dennoch sterben. Es geht um ein tiefes Einssein mit sich und der Welt. Diese Person stirbt heil.

Das Gegenbeispiel wäre, wenn ein Mensch Schreckliches erlebt hat wie die Kriegstraumatisierten aus der Ukraine oder Bootsflüchtlinge. Wir behandeln ihre Verletzungen, sie werden dann zwar physisch wieder gesund, und bleiben dennoch innerlich gebrochen.

Einssein mit sich und der Welt, Spiritual Care, das klingt, als wüssten Sie da mehr.

Ja, in der Tat. Je länger ich praktizierte, desto mehr wurde mir bewusst, dass das, was ich medizinisch tue, nur ein Teilaspekt ist. Das erweiterte, mitmenschlich-spirituelle, fehlt. Und daher entschloss ich mich, die damals erste Ausbildung zu Spiritual Care an der Universität Bern zu absolvieren, eine trifakultäre Ausbildung unter der Leitung der Theologischen Fakultät zusammen mit Medizin und Psychologie. Jedes thematische Modul wurde unter allen drei Aspekten beleuchtet und Spiritualität wurde weit gefasst, nicht nur als protestantische Religion.

Dennoch bewege ich mich als Arzt weiterhin viel stärker im medizinischen Bereich als im Spirituellen. Ich versuche, alle biologischen Parameter zu beeinflussen. Manchmal gelingt es, auch auf Soziale einzuwirken, z.B. wenn jemand eine konfliktbehaftete Arbeit hat. Doch bei Sterbebegleitungen habe ich manchmal auch die spirituelle Ebene erlebt.

«Die Trennung zwischen Körper und Seele lässt sich nicht halten.»

Früher waren in Klöstern oft Spitäler und medizinische Zentren. Jesus hat Menschen geheilt und diesen Auftrag auch seinen Jüngerinnen und Jüngern erteilt. Damals war die Verbindung eng, auch wenn Christen in seltensten Fällen wunderheilend durch die Lande gezogen sind. Seit der Aufklärung ist dies anders. Wie sehen Sie dies heute?

Früher nahm man Krankheiten oft als gottgegeben an, weil man nicht mehr wusste und die Ursachen nicht kannte. Klöster waren oft Orte, in denen sich viel Erfahrungswissen ansammelte und mit damaligen Mitteln naturwissenschaftlich geforscht wurde. Heute sucht man in der Medizin wieder die Rückbindung an das Spirituelle, weil man die eigenen Grenzen sieht und sich bewusst ist, dass sich die Trennung zwischen Körper und Seele nicht halten lässt.

Nicht alle werden wieder gesund. Wie gehen Menschen mit Krankheit um und was hilft ihnen dabei?

Sie kommen nicht primär mit diesem Anliegen zu mir. Doch bei chronisch Kranken stellt sich die Frage, wie es gelingt, die Krankheit in das Leben zu integrieren. Die einen schaffen es, das Beste daraus zu machen, sich nicht zu ergeben, nicht zu resignieren, andere weniger. Das Umfeld und die eigene Biografie spielen eine Rolle. Ebenso, ob sie schon früher schwierige Erfahrungen haben bewältigen können. Manche, die nie etwas hatten, wirft schon eine Kleinigkeit aus der Bahn. Auch der Zeitpunkt kann eine Rolle spielen, ob jemand besser oder weniger gut damit umgehen kann. Die Frage nach der Resilienz ist nicht einfach zu beantworten. Ist sie genetisch, biographisch, eine Mischung daraus?

Was möchten Sie noch ergänzen?

Für mich als Arzt sind die Wunderheilungen Jesu eine interessante Frage. Wie erklärt sich die Theologie diese? Glaubst du es oder glaubst du es nicht (fundamentalistisches Verständnis), das geht für mich nicht auf. Sind es Heilungen, die man naturwissenschaftlich erklären kann, also z.B. eine psychische Lähmung mit einer Spontanheilung? Das gibt es ja. Oder spielt da vielleicht die Unterscheidung zwischen Heil, Heilung und Gesundheit eine Rolle und alles spielt sich auf einer anderen, spirituellen Ebene ab? Oder sind es Zeugnisse, die etwas Bestimmtes aussagen wollen über Jesus? Das sind für mich offene Fragen.

Wie schön, ein gutes Schlusswort! Ich ging damals mit offenen Fragen in mein Theologiestudium in der Annahme, dass ich Antworten bekommen würde und kam – sehr heilsam – mit noch mehr offenen Fragen wieder daraus heraus. Danke für das interessante Gespräch.

Annette Spitzenberg