Herzensabstimmung
So voll wie am 5. Mai ist die reformierte Kirche in Kilchberg selten. 54 Gemeindemitglieder sind am Morgen zum Gottesdienst erschienen und bleiben zur anschliessenden Kirchgemeinde-versammlung sitzen. Die Spannung in der Luft knistert förmlich. Der Entscheid, um den es heute geht, wird das Leben in der Kirchgemeinde für die kommenden Jahrzehnte prägen. Soll Kilchberg mit den Gemeinden Oltingen und Rothenfluh fusionieren – oder nicht?
Wenige Mitglieder, hohe Kosten
Die Abstimmung vom 5. Mai findet zeitgleich in allen drei betroffenen Kirchgemeinden statt. Gründe für eine Fusionierung gibt es genug: Die Mitgliederzahlen in den Gemeinden sinken, indes gibt die totalrevidierte Kirchenordnung aus dem Jahr 2021 vor, dass «eine Kirchgemeinde auf 1500 Mitglieder den Pfarrdienst im Umfang einer Vollzeitstelle zu besorgen hat». Kleine Kirchgemeinden haben Mühe, diesen Vorgaben nachzukommen. Ein Zusammenschluss der Gemeinden bedeutet nicht nur weniger Vollzeitpfarrstellen, sondern unter anderem auch eine Bündelung von Kirchenpflege und Sekretariat, was wiederum eine Kostenerleichterung für die Kirchgemeinden mit sich bringt.
Die grösste Baselbieter Kirchgemeinde
«Haben wir einen Plan für unseren Weg?» Die Frage stellt Sabine Mathä, Sigristin der Kirchgemeinde Kilchberg. Sie bemängelt, zu viele Fragen seien noch offen. Etwa, wo und in welcher Form zukünftig die Sonntagsgottesdienste stattfinden oder wer den Konfirmationsunterricht gestaltet. «Müssen wir wirklich gleich heiraten?», fragt sie weiter. «Die Basis jeder guten Ehe sind schliesslich nicht die Finanzen, sondern Liebe und Vertrauen.»
Anders sieht es eine Frau aus der Gemeinde: «Zusammen sind wir stärker», sagt sie. «Unser Auftrag ist es, uns für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung einzusetzen. Als Grosskirchgemeinde haben wir ganz neue Möglichkeiten, dem gerecht zu werden.»
Das Abstimmungsergebnis ist in allen drei Gemeinden eindeutig: Kilchberg stimmt mit 45 Stimmen Ja, Oltingen mit 52 Stimmen und in Rothenfluh fällt der Entscheid mit 26 Stimmen gar einstimmig aus: Rothenfluh, Oltingen-Wenslingen-Anwil und Kilchberg-Rünenberg-Zeglingen werden das Jahr 2025 gemeinsam als Grosskirchgemeinde Schafmatt-Wisenberg beginnen.
Neue Strukturen für die neue Gemeinde
«Das Baby ist geboren», fasst Fritz Weibel, Präsident der Kirchenpflege Kilchberg, den Abstimmungsentscheid zusammen. Er blickt der Fusion optimistisch entgegen, wenn auch nicht ganz ohne Skepsis. «Eine Renovation bedeutet nicht automatisch eine Erneuerung im tieferen inneren Sinn», erklärt er später im Gespräch.
Er befürchte, die Fusion sei der Weg des geringsten Widerstands gewesen. «Über das Drumrum zu diskutieren – Verkehrswege, Pfarrlöhne, den Konfunterricht –, ist einfach. Über Inhalte nachzudenken, dagegen anstren-gend, denn da muss man kreativ werden», meint Weibel. «Was wir brauchen, ist kein Profitdenken, sondern unternehmerisches Denken!»
Zum Beispiel Gottesdienste im Zuge von Sparmassnahmen zu streichen, sei nicht die Lösung. Im Gegenteil: Man dürfe das Angebot nicht reduzieren, sondern erweitern. In Kilchberg gibt es nun jeden Sonntag ein Kirchencafé nach dem Gottesdienst. Die Kirchenaustritte seien im vergangenen Jahr in der Gemeinde spürbar zurückgegangen: «Wir hatten sogar einen Eintritt!»
Raum für Kreativität
Verschiedene Arbeitsgruppen werden nun die Feinheiten herausarbeiten. Konf-Wochenenden und Lager etwa könnten in Zukunft gemeinsam stattfinden. «Dinge, die den Menschen wichtig sind, werden weiterbestehen», sagt Peter Imhof, Kirchgemeindepräsident in Oltingen. «Diese Abstimmung hat viel mit Vertrauen zu tun – die Leute haben nicht nur mit dem Kopf abgestimmt, sondern auch mit dem Herzen.»
Der Entscheid sei der erste Schritt auf dem Weg zu etwas Neuem und biete Möglichkeiten, die es in den Gemeinden bisher so nicht gab. Für die Befürworter und Befürworterinnen schafft die Fusion Raum für Kreativität. So liegt ihr auch eine wohlwollende Aufbruchstimmung zugrunde.
Trotz ihrer anfänglichen Skepsis blickt auch Sabine Mathä zuversichtlich auf den gemeinsamen Weg, für den die Gemeinde gestimmt hat. Direkt im Anschluss an die Abstimmung meldet sie sich freiwillig für die Pfarrwahlkommission. Der neuen Grosskirchgemeinde Schafmatt-Wisenberg stehen 143,5 Stellenprozent für Pfarrpersonen zur Verfügung, während die Kirchenpflege voraussichtlich aus sechs Personen bestehen wird – im besten Fall zwei aus jeder Gemeinde. Am 5. Juni muss der Fusionsentscheid von der kantonalen Frühjahrssynode bestätigt werden.
«Ich freue mich, dass ein Neuanfang möglich ist», sagt Monika Werthmüller-Bär, Aktuarin und stellvertretende Präsidentin der Kirchenpflege in Rothenfluh. «Nun, da wir mit den anderen Gemeinden so eng zusammenarbeiten, sind wir gezwungen, genau hinzuschauen: Was brauchen wir? Was haben wir schon? Das wird eine sehr spannende Zeit!»
Herzensabstimmung