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«Hongkong wäre lieber britisch als chinesisch»

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21.11.2019
Der Konflikt in Hongkong spitzt sich immer mehr zu. Studenten verbarrikadieren sich in den Universitäten. Tobias Brandner, Schweizer Theologieprofessor und Mitarbeiter von Mission 21, lebt auf dem Campus der Chinese University of Hong Kong, der sich fünf Tage lang zu einer belagerten Festung verwandelt hatte.

Bilder aus Hongkong erreichen uns, die an ein Bürgerkriegsszenario erinnern. Wollten Sie schon die Koffer packen?
Nein, solche Gedanken sind bei mir und auch bei meiner Familie nie aufgekommen.

Aber die Situation während der fünftägigen Belagerung war schon bedrückend?
Jetzt bin ich wieder in der Freiheit (lacht). Nein, auch inmitten des ziemlich grossen Chaos konnten wir noch den Campus verlassen, zumindest zu Fuss oder mit dem Velo. Die Strassen waren für Autos blockiert und der Metrobetrieb eingestellt.

Wie kam es dazu, dass die Unis zu Zentren des Widerstands wurden?
Einerseits ist die Bewegung stark von Studenten geprägt. Zum anderen sind Universitäten so etwas wie geschützte Reduits. Hier darf die Polizei nur mit dem Plazet der Universitätsleitung eindringen. Gleichzeitig sind viele der Universitäten an wichtigen Verkehrsachsen gelegen, die man so blockieren kann. An der Chinese University ist das die Schnellzuglinie, die Hongkong mit der 12-Millionen-Metropole Shenzen verbindet.

Noch im Sommer betonten Sie, wie diszipliniert die Menschen in Hongkong demonstrieren. Was ist aus dem Ruder gelaufen?
Verschiedene Ereignisse führten dazu. Beispielsweise der 21. Juli. Da wurden unschuldige Leute von den Triaden verprügelt und die Polizei schaute einfach zu. Die Polizei selbst ist oft unverhältnismässig gewalttätig auf die Demonstranten losgegangen. Die Menschen in Hongkong haben das Vertrauen in die Polizei verloren.

Hat also die Gewalt der Sicherheitskräfte die Eskalation angestossen?
Es war von beiden Seiten eine Eskalationsbereitschaft da. Aber ich denke, die Polizei hat sich mehr zuschulde kommen lassen. Gegenüber der Ordnungsmacht stelle ich zudem höhere moralische Ansprüche. In Hongkong wurde der Ruf nach einer unabhängigen Untersuchungskommission immer lauter. Ohne Erfolg.

Was sagen ihre Studierenden als angehende Theologen dazu, dass der Protest immer mehr von Gewalt begleitet wird?
Grundsätzlich ist nicht nur unter meinen Studierenden der Tenor weit verbreitet: «Wir wollen uns nicht spalten lassen!» Auch jene, die Gewalt ablehnen, und das sind viele, sagen das. Das hat dazu geführt, dass beispielsweise Christen, die der Gewalt kritisch gegenüberstehen, sich nicht mehr deutlich von den Ausschreitungen der Protestierenden distanzieren.

Und Ihre Position zur Gewaltfrage?
Gewalt ist keine Lösung, auch wenn ich in vielem in der generellen Ausrichtung mit den Protestierenden übereinstimme und ihre Beweggründe verstehe.

Gibt es unter den Demonstranten auch Nationalpopulisten, die sich von den Festland-Chinesen abgrenzen?
In der Bewegung mischt sich alles. Manche Studierende hingen bei der Campusbesetzung Poster auf, um ihren Kommilitonen vom chinesischen Festland zu versichern: Das Ganze richte sich nicht gegen sie, sondern gegen den Staat. Untergründig schwingt schon ein Ressentiment gegen das Festland mit, wenn gezielt chinesische Geschäfte angegriffen oder Geldautomaten der Bank of China zerstört werden.

2014 bei der Regenschirmbewegung waren die Christen gespalten. Wie ist es heute?
Generell fällt mir auf, dass die Kirchen in diesem Konflikt viel geeinter auftreten. Für sie gilt wie für meine Studenten: «Wir lassen uns nicht spalten!»

Viele der Demonstrierenden schwenken britische oder US-amerikanische Flaggen. Ist das nicht ein wenig geschichtsvergessen?
Mich ärgert das kolossal. Aber es zeigt auch, dass Kolonialismus für viele Menschen in Hongkong als etwas Positives erlebt wird. Hongkong hat seinen Sonderstatus und seinen Unterschied zum Festland-China wegen seiner Kolonialgeschichte. Umgekehrt erleben sie auch China schlicht als Kolonialmacht. Für sie ist der britische Kolonialismus durchaus positiv besetzt. Ein grosser Teil der Bevölkerung würde, wenn sie frei wählen könnten, lieber ein Teil des United Kingdom werden, als zur VR China gehören.

Aber auf die Rettung durch westliche Mächte kann die Demokratiebewegung nicht hoffen?
Sie hoffen natürlich, dass die USA politisch Druck machen werden. Das ist zwar wenig durchdacht. Aber ich verstehe, dass man, wenn man gegen eine Weltmacht kämpft, gerne auf die Hilfe der anderen Weltmacht setzt.

Wie weit spielt in den ganzen Konflikt auch die soziale Situation der Bevölkerung – Stichwort: hohe Mieten oder Jugend ohne Perspektiven – hinein?
Vor wenigen Monaten habe ich dieser Interpretation zugestimmt. Heute denke ich: Im Zentrum steht für die Protestierenden die politische Zukunft mit dem Verfallsdatum 2047. In diesem Jahr wird nach dem zwischen Briten und Chinesen ausgehandelten Vertrag Hongkong vollständig in die Volksrepublik China eingegliedert. Die Angst um politische und zivile Freiheitsrechte ist der Hauptantrieb der Bewegung.

Delf Bucher, reformiert.info, 21. November 2019

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