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«Ich bedaure jeden Kirchenaustritt»

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18.09.2020
«Anerkennen»: So lautete das Motto des Aufrufs von Kirchen und Kanton Luzern zum Bettag vom 20. September. Kantonsratspräsidentin Ylfete Fanaj und Regierungspräsident Reto Wyss über Anerkennung in der Politik und die Rolle der Kirchen im Staat.

Herr Wyss, der Bettagsaufruf ist so etwas wie eine Sonntagspredigt mitten im politischen Alltag. Warum überhaupt diese Aktion?
Reto Wyss: Der Bettag ist von der Geschichte her ein staatlicher Feiertag. Daraus leiten Kanton und Kirchen ihren gemeinsamen Bettagsauftritt ab, der seit 2009 praktiziert wird. Der Bettagsaufruf ist also keine Alibiübung und auch kein Traktandum, das in der Regierung nicht die erforderliche Beachtung findet. Wir setzen uns mit dem Text auseinander.

Inwiefern?
Reto Wyss: Die Regierung unterschreibt den Aufruf und will zu ihren Aussagen stehen können. Es soll sich in dieser heiklen Konstellation Kirche und Staat niemand vor den Kopf gestossen fühlen.

Frau Fanaj, Sie gehören als Muslimin schon seit Jahren der Arbeitsgruppe an, welche die Bettagsaktion vorbereitet. Warum dieses Engagement?
Ylfete Fanaj: Der Bettagsaufruf wird auch von der Islamischen Gemeinde als nicht anerkannte Religionsgemeinschaft unterschrieben. Für mich ist das eine symbolisch wichtige Botschaft von Gemeinsamkeit und Dialog. Ich leiste nur einen kleinen Beitrag. Aber gerade im Sinne des diesjährigen Mottos «Anerkennen» sind auch kleine Zeichen wichtig, um die Wertschätzung für die kirchliche Arbeit auszudrücken.

Anerkennen und Verbinden: Wie wichtig sind die Kirchen in diesem Bereich?
Ylfete Fanaj:Kirchen und Religionsgemeinschaften leisten einen enorm wichtigen Beitrag für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Sie bieten Gemeinschaft, Lebenshilfe, Spiritualität und Seelsorge. Und ganz zentral: Sie ergänzen staatliche Leistungen sehr wirkungsvoll. Darum ist ihre öffentlich-rechtliche Anerkennung so bedeutsam. Aber auch die nicht offiziell anerkannten Religionsgemeinschaften leisten wichtige Arbeit.
Reto Wyss: Das kann ich nur bestätigen. Ich spüre das bei meiner Tätigkeit immer wieder. Die Kirche nimmt uns im gesellschaftlichen und sozialen Bereich einen Teil der Arbeit ab und ist eine wertvolle Ergänzung, die wir hoch schätzen. Die Partnerschaft mit den drei Landeskirchen und den weiteren Religionsgemeinschaften hat sich in den vergangenen Jahren sehr bewährt.

Die Kirchen verlieren Mitglieder und damit finanzielle Mittel. Droht eine Verschärfung der Lage im sozialen Bereich, weil ja auch der Staat eher auf der Sparbremse steht?
Ylfete Fanaj: Wir müssen uns bewusst sein, dass jeder Kirchenaustritt dazu beiträgt, dass der Staat längerfristig wieder mehr Aufgaben übernehmen muss. Ich bedaure jeden Kirchenaustritt, auch wenn ich viele Gründe gut verstehe. Aber man entzieht damit nicht dem Vatikan, sondern der Kirche vor Ort jene Mittel, die sie sehr sinnvoll einsetzt. Etwa bei der Gassenarbeit, Freiwilligenarbeit oder im Asylwesen.

Der Asylbereich birgt auch Konfliktpotenzial zwischen Kirche und Staat. Etwa wenn es um Kirchenasyl geht. Da stehen sich Staatsräson und Gewissen manchmal im Weg.
Reto Wyss: Das ist so. Entscheide zu fällen, die für Menschen einschneidende Folgen haben, führt manchmal zu schweren inneren Konflikten. Als Politiker sind wir aber dem Recht verpflichtet und müssen unsere Arbeit auf den Grundlagen der Gesetze leisten. Es ist auf der anderen Seite legitim, dass eine Kirche in gewissen Fragen eine pointiertere Haltung einnimmt, weil sie eine ganz andere Grundlage hat.
Ylfete Fanaj: Wir leben in einem Rechtsstaat und in diesem Rahmen müssen wir uns alle an die Gesetze halten, egal, welche Gesinnung wir haben. Und trotzdem finde ich es wichtig, dass die Kirchen die Aufmerksamkeit auf Anliegen besonders verletzlicher Gruppen legen und deren Rechte einfordern. Sie sollen und müssen ihre Stimme erheben, den Finger auf wunde Punkte legen und so zum moralischen Kompass für uns Politikerinnen und Politiker werden.

Vor 50 Jahren hat der Kanton Luzern die römisch-katholische und die evangelisch-reformierte Kirche als Landeskirchen anerkannt. Heute stellt sich die Frage, ob nicht weitere Religionsgemeinschaften, insbesondere der Islam, eine öffentlich-rechtliche Anerkennung erhalten müssten. Wie ist der Stand der Dinge im Kanton Luzern?
Reto Wyss: Mit der Totalrevision der Staatsverfassung wurde die Grundlage für die Anerkennung weiterer Religionsgemeinschaften geschaffen. Seither gab es mehrfach Überlegungen und Gespräche in dieser Richtung. Aber zu konkreten Ergebnissen haben diese Bemühungen bisher nicht geführt.
Ylfete Fanaj: «Das Gesetz regelt die Voraussetzungen und das Verfahren», heisst es in der Verfassung. Doch dieses Gesetz existiert noch nicht. Und die Zeit dafür ist – realistisch betrachtet – noch nicht reif. Auch die heutigen Landeskirchen mussten einen weiten Weg gehen, bevor sie anerkannt wurden. Das ist ein langer politischer Prozess. Darum ist es wichtig, dass wir uns heute auf diesen Weg machen. Wenn wir überzeugt sind, dass die Religionsgemeinschaften einen wichtigen gesellschaftlichen Stellenwert haben, dann müssen wir auch über die Nichtanerkannten reden. Sie haben heute eine rechtliche Stellung wie ein Fussballverein. Der verstärkte Dialog und eine verbindlichere Zusammenarbeit etwa mit dem Islam böte auch Gelegenheit, Sachverhalte zu klären und Ängste abzubauen.
Reto Wyss: Grundsätzlich einverstanden. Die bisherigen Bemühungen aber haben deutlich gezeigt, dass es in der Praxis einige handfeste Probleme gibt. Wir haben zum Beispiel keinen einheitlichen Ansprechpartner. Auch in der Frage der steuerlichen Hoheit gibt es noch viele ungelöste Fragen. Wir machen es uns nicht einfach und es ist wohl noch ein langer Weg.
Ylfete Fanaj: Das ist so. Aber der Kanton kann auf diesem Weg Unterstützung bieten. Das beginnt bei alltagspraktischen Fragen wie etwa, bei der Seelsorge Lösungen zu finden. Vor allem müsste der Kanton klar kommunizieren, dass er gewillt ist, diesen Weg zu gehen und die anstehenden Probleme anzupacken.

Haben Sie Ihrerseits aus Sicht der Politik ein Anliegen an die Kirchen und Religionsgemeinschaften?
Reto Wyss:Ich wünsche mir, dass wir unsere Partnerschaft, die gegenseitige Ergänzung und Zusammenarbeit weiterhin pflegen können. Sie kommt letztlich der gesamten Luzerner Bevölkerung zugute.
Ylfete Fanaj:Sie sollen eine andere Sicht öffnen für uns Politikerinnen und Politiker, die wir oft gefangen sind im Tagesgeschäft und eingebunden in unsere Parteien. Stimmen von aussen zu hören, ist deshalb sehr wertvoll.

Interview: Stefan Calivers, kirchenbote-online

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