«Ich fühle Trauer, glaube aber an eine Lösung»
Dina Herz, Sie wohnen in West-Jerusalem, in der Nähe von Abu Tor, einem Viertel, wo Juden und Araber nebeneinander leben. Was bekommen Sie vom Konflikt zwischen der Hamas und Israel mit?
In der ersten Nacht habe ich die etwa neun Raketen gehört, die über Jerusalem abgefangen wurden. Und eine Freundin von mir aus Abu Tor hat mitbekommen, wie Autos angezündet und Brandbomben auf Balkons geworfen wurden. Aber ansonsten ist es ruhig hier und sicherer als etwa in Tel Aviv. Trotzdem überlege ich mir im Moment sehr genau, wo ich mit meinem Auto durchfahre, wenn ich irgendwo hinmuss.
Was tun Sie, wenn der Raketenalarm ausgelöst wird, bringen Sie sich in einem Bunker in Sicherheit?
Da wir in einem relativ alten Haus leben, haben wir keinen Bunker, dafür dicke Mauern. Wir gehen ins Treppenhaus, denn dort gibt es keine Fenster.
Haben Sie Angst?
Angst um mich selbst habe ich nicht, da bin ich fatalistisch. Wenn es mich erwischt, dann erwischt es mich. Ich habe eher Angst um die Zukunft Israels und um meine drei Kinder. Etwa um meinen Sohn, der vor zwei Monaten in ein Studentenheim in Tel Aviv gezogen ist. Und ich fühle eine Trauer, die über allem liegt. Das Leben hier lässt sich am ehesten mit dem vergleichen, was ein Boxer im Ring durchmacht.
Wie meinen Sie das?
Der Boxer ist von seinem Gegner zusammengeschlagen worden, er liegt am Boden, rappelt sich mit letzter Kraft auf und «Bam», schon kommt der nächste Schlag. Im Moment ist der Alltag hier sehr erschöpfend, man kann sich geistig nicht ausruhen. Vor allem kann man nicht sagen, dass einen das alles nichts angeht. Es ist schrecklich zu sehen, wie die Palästinenser im Gazastreifen leiden, so dass ich mich manchmal auch mitschuldig fühle.
Denken Sie, dass es in diesem sehr komplexen Konflikt, der schon Jahrzehnte andauert, je eine Lösung geben wird?
Ich bin ein optimistischer Mensch und glaube an eine Lösung, ich glaube auch an die Zweistaaten-Lösung. Allerdings haben sich die bisherigen Methoden zur Lösungsfindung nicht bewährt, es kommt letztlich immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Der Nahe Osten bräuchte dringend einen Seelsorger.
Sie sind selbst Seelsorgerin, wobei die Seelsorge in Israel von der Religion abgekoppelt ist, da alle Menschen angesprochen werden sollen. Ist der aktuelle Konflikt bei jenen, die Sie aufsuchen, ein Thema?
Ich betreue einerseits ältere Menschen und andererseits solche, die einen nahen Angehörigen durch einen Suizid, Unfall oder Mord verloren haben. Unter ihnen gibt es einen älteren Mann, der sich in seinem Leben sehr für den jüdischen Staat eingesetzt hat, etwa als Soldat, und der jetzt sein Lebenswerk kaputtgehen sieht. Darunter leidet er sehr.
Gibt es in Ihrem Freundes- oder Bekanntenkreis auch Araber oder Palästinenser?
Im Moment nicht, aber als ich noch im Spital arbeitete, schon. Dort klappt die Zusammenarbeit wunderbar, weil alle Angestellten ihre Vorurteile und Ideologien ablegen. Von meinen Eltern habe ich gelernt, jeden Menschen mit Respekt zu behandeln. Denn jeder von uns ist im Antlitz Gottes erschaffen worden.
Sie leben seit 40 Jahren in Israel. Wollen Sie je wieder zurück in die Schweiz?
Nein. Es sei denn, die politische Lage wird noch schlimmer und das Rechtssystem korrupt. Israel ist ein Teil meiner Identität, es gibt so viel Gutes in diesem Land. Etwa Juden, die nach Lod, südöstlich von Tel Aviv, ziehen, um die Koexistenz zwischen Arabern und Juden wiederherzustellen. Vor 1948 lebten fast ausschliesslich Araber im Ort. Nach dem Krieg wurden die meisten von ihnen vertrieben.
Nadja Ehrbar, reformiert.info
«Ich fühle Trauer, glaube aber an eine Lösung»