«Ich habe gebetet, mit weisser Haut aufzuwachen.»
Rachel M'Bon, Sie wuchsen in den 70er und 80er-Jahren als Tochter einer Schweizerin und eines Kongolesen in der Westschweiz auf. Was war der Moment, an dem sie als Kind merkten, dass Sie sich durch ihre Hautfarbe von der Mehrheit im Land unterscheiden?
Mir war natürlich klar, dass meine Mutter weiss war und mein Vater schwarz. Aber das spielte zunächst keine Rolle. Meine Mutter sagte mir immer, Du bist Schokolade mit etwas Milch. Das war noch irgendwie süss. Aber am ersten Schultag wurde mir bewusst, dass es ein Problem gibt. Der Lehrer bat die Kinder, sich eine Tischnachbarin oder einen Tischnachbarn zu suchen. Niemand wollte neben mir sitzen. Da ahnte ich, dass mein Leben anders werden würde als das der anderen Kinder. Zu meiner Mutter sagte ich einmal, meine Hautfarbe sei wie eine Behinderung.
In Ihrem Film geben Sie drastische Beispiele der Diskrimination aus Ihrer Kindheit: Ein Lehrer schlug vor, dass Sie zu ihm nach Hause staubsaugen kommen, als Strafe für Fehlverhalten.
Der Lehrer hatte seine Wohnung direkt über der Schule und fand, das sei eine angemessene Bestrafung für mich. Einem weissen Kind hätte er das nie vorgeschlagen. Aber man muss auch sagen: So etwas würde es heute nicht mehr geben. Das war in einem kleinen Dorf in den 80er-Jahren. Ich war damals das einzige schwarze Mädchen an dieser Schule.
Ist der Rassismus also über die Jahre weniger geworden?
Nein, aber ich würde sagen, ausgeklügelter, weniger platt. Früher sagten die Menschen eher «Neger» oder schlugen mir vor, zurück in mein Land zu gehen. Jetzt finden sie andere Wege um zu signalisieren, dass ich nicht in die Schweiz gehöre.
Zum Beispiel?
Heutzutage wechseln auch alte weisse Damen in Lausanne nicht mehr den Platz, wenn ich mich im Bus neben sie setze. Aber dafür gibt es Blicke. Oder Menschen sprechen mich an, fragen woher ich komme. Und die Art, wie sie mich ansprechen, ist nicht auf Augenhöhe. Mit einer weissen Frau würden sie nie so flapsig reden. Die grundlegenden Probleme haben sich nicht verändert. Das hat auch der Film gezeigt. Die jüngste Frau, die wir befragten, war 17 Jahre alt, die älteste 73. Im Wesentlichen haben beide Frauen die gleichen Erfahrungen gemacht. Das war für mich eine der schmerzhaftesten Erkenntnisse aus dem Film.
Was war für Sie der bewegendste Moment bei den Dreharbeiten?
Als eine der Frauen erzählte, wie sie als Mädchen abends immer dafür betete, am Morgen als weisses Kind aufzuwachen. Das hat mich sehr berührt, weil es mir in der Kindheit gleich ging. Ich habe Gott oft darum gebeten, mit weisser Hautfarbe aufzuwachen.
Was hat Sie dazu bewogen, diesen Film zu machen?
Es kamen viele Dinge zusammen. Als ich als Journalistin arbeitete, unter anderen beim Westschweizer Magazin «Encore», merkte ich, dass schwarze Frauen in der Schweiz gar nicht von den Medien und der Werbung wahrgenommen werden. 2017 startete ich dann mit dem Instagram-Account «Noires», um schwarzen Frauen eine Plattform zum Austausch zu geben, einen Ort um sich auszudrücken. Nachdem ich mit einigen von ihnen Interviews geführt hatte, wollte ich das Thema auf eine andere Ebene bringen - von den sozialen Medien ins Kino.
Der Film beginnt damit, dass Sie den Nachlass Ihres Vaters, eines kongolesischen Malers, sichten. Hatte der Tod Ihres Vaters auch mit dem Filmprojekt zu tun?
Ich glaube, ich konnte mich erst nach dem Tod meines Vaters mit den Themen Hautfarbe und Rassismus auseinandersetzen. Mit ihm darüber zu sprechen, wäre zu schmerzhaft gewesen. Die Interviews mit den Frauen waren der Beginn einer Suche nach meiner eigenen Identität. Ich begann, mein eigenes Leben in Frage zu stellen. Jahrzehntelang hatte ich versucht, die perfekte Schweizerin zu sein. Reinzupassen - trotz meiner Hautfarbe. Ich war erfolgreich im Job, hatte mit einem Schweizer eine Familie gegründet, lebte ein typisches Schweizer leben. Ich war so angepasst, dass ich selbst über Witze lachte, die andere Menschen über Schwarze rissen. Ich sagte mir, ich sei ja nicht damit gemeint. Doch nach und nach wurde mir klar, dass das so nicht funktioniert, dass mein Leben eine Lüge war.
«Die Schweiz will sich immer als Postkartenidylle präsentieren. An diesem Bild darf ja nicht gekratzt werden. Deswegen ist es schwierig, das Thema Rassismus auf den Tisch zu bringen.»
Regisseurin Rachel M'Bon
Sie kündigten den Job, liessen sich scheiden, warum so drastisch?
Es fühlte sich an wie eine Verwandlung. Der Start war nicht einfach und machte mir Angst, aber ich musste dieses «alte Leben» hinter mir lassen. Raum für Neues schaffen.
Wie fühlt sich Ihr neues Leben an?
Es ist noch immer eine Reise, bei der ich noch nicht angekommen bin. Aber ich fühle mich näher bei mir. Der Film hat mir auf dem Weg sehr geholfen, er gab mir Kraft. Ich kann mich jetzt selbst als Mensch definieren. Früher habe ich das nur durch die Erwartungen anderer Menschen an mich getan.
In Ihrem Film spielen Sie viel mit dem Schweiz-Klischee: Alphornbläser, Berge, Postkartenidylle. In Städten wie Zürich aber ist Migrationshintergrund Alltag. Verwenden Sie nicht Bilder, die der Realität gar nicht mehr entsprechen?
In Zürich gibt es kulturelle Vielfalt. Aber gehen Sie mal ein paar Kilometer aus der Stadt raus, ins Umland, da sieht es schon ganz anders aus. Dort gibt es teils sehr konservative Menschen und kaum kulturelle Vielfalt. Und auch in der Politik gibt es sehr wenig Bewusstsein für das Problem des Rassismus. Es gibt keine Möglichkeit, Menschen, die andere diskriminieren, zu belangen. Wenn etwa jemand einer schwarzen Person einen Job aufgrund der Hautfarbe nicht gibt, kann man nicht dagegen vorgehen.
Was erwarten Sie von der Politik?
Zunächst einmal, dass man zugibt, dass es hier ein Problem gibt. Denn nicht einmal das findet statt: Im Herbst attestierte ein Bericht der Vereinten Nationen der Schweiz ein grosses Problem mit systemischem Rassismus. Anstatt sich der Tatsachen zu stellen, stellte die Schweiz den UN-Bericht in Frage. Es wird also weiterhin geleugnet, und das ist höchst problematisch.
Gehen andere Länder besser mit dem Thema um?
Ich denke schon. Viele andere europäische Länder hatten Kolonien und mussten sich mit Menschen anderer Hautfarbe auch aufgrund ihrer Geschichte anders auseinandersetzen. Es war also auch einfacher, über Rassismus zu sprechen. Die Schweiz dagegen will sich immer als Postkartenidylle präsentieren. An diesem Bild darf ja nicht gekratzt werden. Deswegen ist es schwierig, das Thema auf den Tisch zu bringen.
Dennoch gab es vor zwei Jahren grosse Black-Lives-Matter-Demonstrationen auch hierzulande. Anlass war der Tod von George Floyd durch Polizeigewalt in den USA.
Das war für mich ein Momentum. Es war das erste Mal, dass Menschen in so grosser Zahl in der Schweiz gegen Rassismus demonstrierten und über das Thema sprachen. Und zwar nicht nur schwarze Menschen, sondern auch Weisse. Das zeigt mir: Wir haben Verbündete. Ich hege auch grosses Vertrauen in die nächste Generation. Sie denkt mehr im Kollektiv, ist offener gegenüber dem Fremden. Sie nimmt Unterschiede eher an, und das wird für die Zukunft entscheidend sein. Denn die grossen Probleme, ob Klimawandel, soziale Gerechtigkeit oder Rassismus, lassen sich nur als Gesellschaft gemeinsam lösen.
Filmstart in der Deutschschweiz am 9. März. Spezielle Vorführungen mit der Möglichkeit, Rachel M'Bon Fragen zu stellen sind hier zu finden.
«Ich habe gebetet, mit weisser Haut aufzuwachen.»