«Ich habe noch nie so eine riesige Not gesehen»
Seit dem 19. Januar herrscht in Gaza eine Waffenruhe. Heks ist vor Ort und organisiert Nothilfe. Womit ist Ihr Team derzeit beschäftigt?
In Zusammenarbeit mit lokalen Partnern organisieren wir Nothilfepakete, darunter sogenannte Sealing-Off-Kits. Sie enthalten unter anderem Planen, um das Haus wetterfest zu machen und um Privatsphäre zu schaffen. Wir liefern zudem Hilfsgüter wie Küchenutensilien, Matratzen, Decken. Zehn Lastwagen sind bereits angekommen, am Montag geht einer in den Norden Gazas, zehn weitere sollen demnächst ebenfalls dorthin gelangen. Da Heks seit 2014 im Gazastreifen tätig ist, konnten wir rasch die Nothilfe aufbauen. Aber den Menschen fehlt es an allem.
Was treffen Sie an?
Die Zerstörung ist massiv. Es gibt kein Wasser, keine Elektrizität, keine Nahrungsmittel, keine Infrastruktur, kein Abwassersystem. Ich habe in vielen Krisengebieten auf der ganzen Welt gearbeitet, aber noch nie eine so grosse Not unter der Bevölkerung gesehen. 34 Prozent der Wohngebiete sind komplett zerstört. 93 Prozent wurden getroffen – davon sind 41 Prozent teilweise und 17 Prozent schwer beschädigt.
Man sieht Bilder von Tausenden Menschen, die Richtung Norden ziehen. In ihre Häuser werden sie vermutlich nicht zurückkehren können?
Nein. Es ist total verständlich, dass nun alle schauen wollen, wie es um ihr Haus oder ihre Wohnung steht, doch sie finden praktisch nur Ruinen vor. Manche versuchen, ihr Zuhause irgendwie bewohnbar zu machen. Aber das ist gefährlich, denn es gibt Blindgänger, und Gebäudeteile drohen auch jetzt noch einzustürzen.
Wie können Sie sie unterstützen?
Wir organisieren Infoanlässe zum Thema Blindgänger. Gemeinsam mit unseren lokalen Partnerorganisationen vor Ort organisieren wir zudem Anlässe, wo den Betroffenen gezeigt wird, wie sie ihr kaputtes Haus stabilisieren und wieder aufbauen können, wir haben entsprechende Hilfsmittel dazu entwickelt. Viele Menschen werden jedoch vorerst weiterhin in der humanitären Zone leben müssen, während sich ein Familienmitglied vor Ort um den Wiederaufbau kümmert. Viele, die nun losgezogen sind, müssen zurück in die Notunterkünfte.
Welche Gruppen sind von der derzeitigen Situation besonders betroffen?
Frauen tragen, wie in allen Krisengebieten, eine doppelte Last. Sie versuchen, ihre Familien zusammenzuhalten und Nahrungsmittel zu beschaffen. Und die Kinder sind schwer traumatisiert. Sie mussten mehrfach fliehen, sind lange Zeit nicht zur Schule gegangen und leiden unter Hunger. Deshalb investieren wir viel in psychologische Hilfe und versuchen, ihnen eine minimale Struktur zurückzugeben. Die Frauen involvieren wir speziell in Landwirtschaftsprojekten. Soeben konnten Gurken und Tomaten geerntet werden. Das ist wunderbar und enorm wichtig.
Wenn man die Bilder der vielen Lastwagen sieht, hat man den Eindruck, dass die Hilfe breit angerollt ist. Wie beurteilen Sie die internationale Unterstützung?
Die Zahl der Lastwagen mit Hilfsgütern ist tatsächlich stark gestiegen, doch die Not wird weiterhin extrem gross bleiben. 1.5 Millionen Menschen brauchen dringend grundlegendste Güter. Und mit Nothilfe ist die Krise noch längst nicht beseitigt. Zwar betonen viele Staaten die Bedeutung von Resilienz und Friedensarbeit, aber wenn es um die Finanzierung solcher Projekte geht, halten sie sich zurück. Langfristige Konflikttransformation ist ebenso entscheidend.
Was macht Heks in diesem Bereich?
Heks stärkt auf israelischer wie palästinensischer Seite Akteurinnen und Akteure der Zivilgesellschaft, die sich für die Konflikttransformation und die Menschenrechte einsetzen. So haben wir beispielsweise vor Jahren das «Open Forum» initiiert: Israelische und palästinensische Organisationen arbeiten gemeinsam an der Konfliktbewältigung. Nach Kriegsbeginn reagierten die Mitglieder des «Open Forum» auf die Bedürfnisse der Betroffenen in Israel und entwickelten gemeinsame Projekte für benachteiligte Menschen, die keinen Zugang zu staatlichen Leistungen haben wie Binnenvertriebene in den palästinensischen Gebieten und Beduinen. Diese Programme sind für die Schaffung langfristiger Lösungen von entscheidender Bedeutung. Die Gewalt im Westjordanland hat seit dem Waffenstillstand erheblich zugenommen.
Haben Sie Hoffnung auf eine langfristige Lösung?
Unser Team ist sehr froh über den Waffenstillstand, und ich sehe derzeit einen politischen Willen zur Verbesserung der Lage. Die Geschwindigkeit, mit der jetzt Hilfe eintrifft, zeigt das anschaulich. Viele Menschen auf beiden Seiten wünschen sich Frieden. Ich hoffe, dass sich dieser Wunsch auch langfristig durchsetzt.
Georgina Jordan ist HEKS-Delegierte für Humanitäre Hilfe in Gaza. Derzeit befindet sich das HEKS-Büro im Gazastreifen in der Stadt Deir El Balah, ebenfalls geplant ist die Wiedereröffnung eines Büros Gaza-Stadt.
«Ich habe noch nie so eine riesige Not gesehen»