«Ich wollte nur noch zurück ins Leben»
Vorsichtig öffnet Boas die Erinnerungsbox von Micha. Der 14-Jährige legt seine Finger in den Abdruck der Hände seines verstorbenen Bruders. «Wir können Micha wohl nie ganz vergessen», beginnt Melanie Giger. Aus der Box kommt ein Springseil zum Vorschein, das Schwester Jael für Micha geknüpft hat. «Damit er im Himmel ‹Seiligumpen› kann.»
Auch zehn Jahre nach dem Tod nimmt Familie Giger ab und zu die Box von Micha hervor. «Dann schauen wir uns das Programm der Abdankung an oder besuchen Micha am Grab.» In der Stimme der Mutter schwingt heute keine Verzweiflung mehr mit. Doch das war lange nach seinem Tod anders. Melanie litt dreieinhalb Jahre an Depressionen und war traumatisiert. Instinktiv habe Boas ab dem Todestag von Micha alle Aufgaben im Kindergarten selbstständig erledigt, erzählt Vater Markus Giger. «Er hat wohl gespürt, dass das Leben für uns zu hart war.»
Die Geburt
An jenem Sonntag im Februar im Jahr 2012 kommt es zum Geburtsstillstand, Micha muss per Kaiserschnitt auf die Welt geholt werden. Die Eltern bekommen ihr Baby kaum zu Gesicht, es wird in einem separaten Raum isoliert. Als ehemalige Pfleger wissen Markus und Melanie sogleich: Die Lage ist ernst. Wenig später muss Micha reanimiert werden. «Sein Leben hängt an einem seidenen Faden», erklärt der leitende Arzt den Eltern.
«Dein Wille geschehe»
Nichts deutet vor der Geburt auf gesundheitliche Probleme von Micha hin. Ein junges Ehepaar. Zwei gesunde Kinder. Und das Familienauto, ein grosser Minivan, welcher der bald fünfköpfigen Familie gerecht werden soll, wurde am Vortag erst geliefert. Wochen später stellt sich beim Ultraschall heraus, dass Organfehlbildungen übersehen wurden. Gigers sind voller Hoffnung. Stutzig wird Melanie, als sie kurz vor der Geburt die Losung zieht: «Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten.»
Ein paar Stunden später wird Michas Zustand instabiler. Kurzerhand wird er auf die Intensivstation des Kinderspitals St. Gallen verlegt. Melanie und Markus harren zusammen mit ihren Kindern neben Michas Bett aus – dann bleibt ihnen nur noch wenig Zeit, als Familie Abschied zu nehmen vom «strammen, kleinen Micha». 30 Stunden hatte er gelebt. Keine medizinische Massnahme, kein Gebet konnte ihn am Leben erhalten.
Klagen als Schlüssel
Nach fünfwöchigem Schockzustand überwältigt Melanie eine tiefe Trauer. Wut steigt in ihr hoch. Zuerst als zaghaftes Klagen, später schreit sie Gott ihre Wut entgegen. Sie hämmert mit den Fäusten gegen die Wand, zerschmettert einen Kinderschemel. «Wieso hat mir Gott Micha genommen?», fragt sie immer wieder. Noch heute zeugt ihr Blick davon, wie entschlossen sie Gott konfrontierte. «Ich erkannte mich selber nicht mehr», gesteht die sonst so gefasste Frau.
Als nach der Schockphase die Emotionen durchbrechen, fühlt sich Melanie von Gott im Stich gelassen. Gott schweigt, Leere macht sich breit, die Hoffnung scheint weit entfernt. «Das war für mich sehr irritierend, ich war es gewohnt, dass er mit mir redet.» Sie entscheidet sich, mit Gott im Gespräch zu bleiben. Irgendwann, Monate später, realisiert sie: «Jetzt fängt er wieder an, zu meinem Herzen zu reden.»
Menschen, die ihr sagen: «So kannst du mit Gott nicht reden!», finden sich in ihrem kirchlichen Umfeld. Doch von einer aufgesetzten Maske will sie nichts wissen: «Ich realisierte, wenn ich nicht grundehrlich gegenüber Gott bin, entferne ich mich von ihm.» Melanie spürt instinktiv: Entweder hat Gott auch im Klagen Bestand, oder er ist es nicht wert, dass sie ihm nachfolgt. Mit den Jahren spürt sie: Gott hält das aus und macht keine Vorwürfe. «Das war sehr befreiend», sagt sie heute.
«Wir hätten unterschiedlicher nicht trauern können»
«Wieso trauert ihr Mann nicht?»: Melanie weiss, dass sie sich diese Frage so nicht stellen darf. Und trotzdem ist sie da. Während Melanie oft weint und aufs Grab geht, vergiesst ihr Mann nur selten Tränen. Beide wissen: Markus trauert auf seine Weise. Doch für ihn ist bald nicht mehr der Tod von Micha das Schlimmste, sondern dass er die ganze Familie durch die Krise tragen muss. «Nach ein paar Monaten wollte ich nur noch zurück ins Leben!», gesteht er. Markus setzt alles daran, für seine Familie da zu sein. Doch zweimal in der Woche zieht er sich zum Golfspielen zurück, schleudert seinem Schicksal mit jedem Abschlag seine Sorgen entgegen. Was ihm guttut, empfindet Melanie zunehmend als verletzend: «Ich fühlte mich alleingelassen. Wir hätten unterschiedlicher nicht trauern können.»
Gefährlich werde es, wenn man die Unterschiedlichkeit bewerte und sich gegenseitig Vorwürfe mache, meint Markus. «Noch im Spital hat man uns klargemacht, dass viele Ehen am Kindstod zerbrechen.» Melanie und Markus gaben sich deshalb gegenseitig das Versprechen: Sie wollen alles daransetzen, gemeinsam durch die Krise zu gehen und zusammenzubleiben. Dreieinhalb lange Jahre dauert es, bis das Gröbste überstanden ist. Die beiden würden niemandem, dessen Ehe nach einem Kindstod zerbricht, einen Vorwurf machen.
Von der Intensität in die Stille getrieben
Für Markus wird in der Trauer die Stille zum Anker. «Der Alltag war so intensiv, da musste ein Platz her, an dem ich zur Ruhe kommen und meine Gedanken ordnen konnte.» Stundenlang sitzt er im Wald am Feuer, verbrennt Zettel, die er zuvor mit Gedanken beschriftet hat. Psalm 62 ist für Markus noch heute ein Schlüssel in bewegten Zeiten. «Meine Seele wird stille zu Gott», heisst es dort. Länger planen kann Markus nicht. Die Zeiten am Feuer geben ihm Kraft für die nächsten ein, zwei Tage.
Verlassen von Gott und den Menschen
Bald müssen die beiden den ernüchternden Schluss ziehen: Nur wenige Menschen halten auf die Dauer zu ihnen. Melanie merkt rasch, wer ihr Klagen aushält. «Ich hatte manchmal das Gefühl, den anderen wäre es am liebsten, ich wäre gleich wieder schwanger geworden. Dann wäre vermeintlich alles wieder gut.» Ein Jahr lang war Melanie in der Pflege auf einer Palliativabteilung täglich mit dem Tod konfrontiert. Doch die Frage, warum Gott das Leid zulässt, springt sie «jetzt an wie ein wildes Tier». Melanie verschlingt Dutzende Bücher. Es dauert seine Zeit, bis sie Antworten erhält.
«Etwas Neues beginnt zu wachsen»
Natur zu spüren, bedeutete für Melanie schon immer Leben. In der schwierigen Zeit ist es ihre «Hausaufgabe», täglich eine Stunde zu spazieren. Doch Bekannte wechseln die Strassenseite, wenn sie ihr begegnen. Melanie verlässt nur noch für das Nötigste das Haus. Die Wende kommt mit einer Entscheidung: «Ich entschloss mich, dankbar zu sein für das, was ich noch habe: zwei Kinder, ein Ehemann, fliessendes Wasser aus dem Wasserhahn, kein Krieg in der Schweiz.» Drei Tage spaziert sie durch den Wald und über Gemüsefelder. Plötzlich beginnen unverhofft Tränen zu fliessen, jeden Tag am selben Ort. Instinktiv weiss sie: Jetzt geht es aufwärts, das sind nicht Tränen der Trauer, sondern Tränen des Durchbruchs – zurück ins Leben.
Nach dreieinhalb Jahren ist der Tiefpunkt überwunden. Melanie weiss: Jetzt beginnt etwas Neues zu wachsen. «Ich realisierte, Menschen können Dinge auf ihre Art aushalten, aber Gott hält sie auf seine Weise aus.» Letztendlich stärkt dies ihr Vertrauen enorm. «Heute habe ich ein tiefes Vertrauen in seine Allmacht und Weisheit.»
Gestärkt aus der Krise
Geholfen haben den beiden auch ihre wöchentlichen Eheabende. «Selbst wenn unsere Emotionen dagegensprachen, wollten wir erst recht nicht darauf verzichten, bewusst Zeit zu zweit zu verbringen.» Stärkend und verbindend erlebten sie auch gemeinsame Projekte. «Wir bauten und bepflanzten ein grosses Hochbeet in unserem Garten und leiteten gemeinsam den Bereich Ehe und Familie in unserer Kirche mit viel Freude und Hingabe.» Den anderen wissen zu lassen, wie es in einem aussieht, über Wünsche, Träume, aber auch Enttäuschungen und Schwächen zu reden, sieht das Paar als Voraussetzung für emotionale Intimität. Sie empfehlen Angehörigen und Bekannten, den Betroffenen konkret Hilfe im Alltag anzubieten. Im oft lang andauernden Trauerprozess seien auch regelmässige Besuche oder Karten, Einladungen zum Essen und Geschenke eine wertvolle Art zu begleiten.
Buch und Stiftungsgründung
Rückblickend entpuppt sich die Krise von Melanie und Markus Giger als grosse Chance. «Unsere Beziehung zueinander und zu Gott ist ehrlicher, tiefer und reifer geworden», sagt das Ehepaar. Die beiden haben über ihre Erfahrungen das Buch «Mitten im Sturm» geschrieben. Sie wollen darin Menschen teilhaben lassen an ihrem Weg und sie so ermutigen. Heute stehen sie kurz vor der Gründung ihrer Stiftung Wegbegleiter. Diese soll Hand bieten, wo Not ist. Der Spitex bleibe heute keine Zeit mehr, mit einer Mutter, die ihr Kind verloren habe, einen Kaffee zu trinken. Mit ihrem Angebot wollen die beiden mit Menschen durch schwierige Zeiten gehen und ihnen nach ihren Möglichkeiten helfen. Etwa mit «Gutscheinen, damit einmal nicht selber gekocht werden muss, für eine Auszeit in einer Ferienwohnung oder ein Bahnbillett für die ganze Familie», erklärt Markus.
Michael Schäppi, Kirchenbote, 23.2.23
«Ich wollte nur noch zurück ins Leben»