«Ikonen sind schützenswerte Artefakte»
«Ganz klar auf Deutsch», antwortet Nina Gamsachurdia im Videocall auf die Frage, wie sie denke und träume. Doch ihre georgischen Wurzeln sind noch stark. Sie empfindet es als grosses Privileg, den Jahresbeginn in Tbilisi (Tiflis) in der Wohnung der verstorbenen Mutter verbringen zu dürfen. «Wir treffen regelmässig Freunde und Verwandte, geniessen das georgische Essen und unterhalten uns in der einzigartigen Sprache, die ich sehr liebe und deren spezielle Schriftzeichen ich schätze», erzählt Gamsachurdia. So harmonisch wie jetzt war ihr Leben in Georgien jedoch nicht immer. Vor dreissig Jahren musste sie Hals über Kopf das Land verlassen. Gemeinsam mit ihrem Mann, dem Sohn des gewaltsam gestürzten Präsidenten Georgiens, floh sie 1992 hochschwanger in die Schweiz. Mittlerweile hat sie mehr Jahre in der Schweiz als in Georgien verbracht. «Es ist schon speziell, dass ich nun schon bald drei Jahrzehnte in der Schweiz lebe – ein eigentliches Jubiläum», sinniert sie lächelnd.
Mehrere Standbeine
Nina Gamsachurdia hat an der Staatsakademie in Tbilisi ein Studium der Künste absolviert. Anschliessend arbeitete sie während vier Jahren am Institut für Kunstwissenschaften im Bereich byzantinische Kunst. «Im Laufe der Zeit ist mir bewusst geworden, dass viele Ikonen-Kunstsammlungen, die in den 1970er-Jahren in die Schweiz gekommen sind, gänzlich unerschlossen sind», erzählt Gamsachurdia. «Damals handelte es sich um Kunstwerke, die man vor der Zerstörung durch die Sowjetunion retten wollte.» Heute seien sich die Nachkommen der damaligen Besitzer nicht mehr bewusst, welche Meisterwerke sich in ihren Sammlungen befinden. «Ich sehe es als meine Lebensaufgabe, solche Ikonen wieder ins kollektive Bewusstsein zu bringen und im Rahmen von Ausstellungen deren Schönheit und Ausstrahlung zu zeigen.»
2018 gründete sie den Verein Iconarium, der sich zur Aufgabe macht, qualitativ hochstehende Schweizer Sammlungen von sakralen Objekten aus dem osteuropäischen Raum systematisch aufzuarbeiten. «Ikonen sind schützenswerte Artefakte. Es lohnt sich, die zahlreichen bisher unbekannten privaten und kirchlichen Kunstsammlungen zu erschliessen und einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen.» Derzeit sei das Museum Burghalde in Lenzburg der einzige Ort in der Schweiz, das der Kunstform Ikonenmalerei eine permanente Plattform biete.
Altes Handwerk
Die 56-jährige Mutter zweier erwachsener Söhne kann weder von ihrer Arbeit als Kunsthistorikerin noch vom Erlös ihrer Bilder leben. «Handwerk hat goldenen Boden, heisst es. Deshalb bin ich froh, dass ich als Restauratorin immer wieder auf diesen Brotjob zurückgreifen kann», sagt Nina Gamsachurdia. «Aber am liebsten würde ich natürlich noch viel mehr malen.» Die Farben, Binde- und Deckmittel für ihre Werke stellt sie nach jahrhundertealter Tradition eigenhändig her. Zum Einsatz kommen für die Farben pulverisierte Edelsteine, Blattgold und Blattsilber. Für ein Bild braucht sie drei bis vier Monate Zeit. «Die Herstellung der Farben wie auch das Auftragen der vielen Schichten ist aufwendig.»
Tiefblau-goldene Stele
Gamsachurdias Auftragsarbeit «Lapis Solaris» wurde im Rahmen eines Wettbewerbs der Zürcher Bahnhofskirche als bestes Werk ausgezeichnet und war dort im Sommer des vergangenen Jahres ausgestellt. Das Objekt entspricht allen Religionen gleichermassen. Die Stele ist etwa so gross wie ein Mensch und strahlt in den Farben Tiefblau und Gold. In der Malerei werden diese Farben mit Gott und dem Göttlichen assoziiert. «Lapislazuli ist das wohl berühmteste Blau des Altertums», erklärt Nina Gamsachurdia. Schon die Ägypter und die Kelten hätten die Schönheit dieses Halbedelsteins geschätzt. «Der kostbare Rohstein stammt aus dem Norden von Afghanistan. Dort wird er seit mehr als 8000 Jahren abgebaut.» Das Pigment werde in einem mühsamen Prozess aus dem Stein gewonnen und sei von unvergleichlicher Farbe und Qualität. Lapislazuli-Blau und Gold werden seit Jahrhunderten in der christlichen Kunst und insbesondere in der Ikonenmalerei verwendet.
Dank guten Kontakten kam die Stele von Zürich in die Basler Titus-Kirche auf dem Bruderholz und war dort im vergangenen September zu sehen. «Ich bin glücklich, dass ich mit dem ‹Lapis Solaris› vielen Menschen eine Freude bereiten konnte. Im Gegensatz zur Bahnhofskirche verfügt die Titus-Kirche über mehr Raum. Das tat dem Werk gut.»
Toni Schürmann
«Ikonen sind schützenswerte Artefakte»