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Immer weniger mit Religion am Hut

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11.07.2019
In der arabischen Welt bezeichnen sich immer weniger Menschen als religiös. Das zeigt eine kürzlich publizierte Studie. Nahostexperte Reinhard Schulze interpretiert die Resultate.

Immer mehr Menschen in der arabischen Welt kehren der Religion den Rücken zu. Zu diesem Resultat kommt eine Umfrage, die das Arab Barometer Netzwerk im Auftrag der englischen BBC durchgeführt hat. Forscherinnen und Forscher aus der arabischen Welt befragten mehr als 25'000 Menschen in elf Ländern in Nordafrika und der Levante zu unterschiedlichen Themen wie Frauenrechte, Migration und Sicherheit (zur Methodik siehe Kasten unten). 

Verlust in religiöse Institutionen
Auf die Frage der Religiosität gaben im Schnitt 13 Prozent an, nicht religiös zu sein. 2013 waren es noch 8 Prozent. «In erster Linie zeigt die Befragung einen ziemlich rasanten Vertrauensverlust in die religiösen Institutionen arabischer Gesellschaften», interpretiert Nahostexperte Reinhard Schulze das Resultat. «Innerhalb von fünf Jahren verlieren Menschen ja nicht in dem Umfang ihre Frömmigkeit.»
Während sich 2013 in Tunesien 15 Prozent als unreligiös definierten, waren dies in der jüngsten Umfrage rund 30 Prozent. Auffallend ist, dass vor allem in nordafrikanischen Ländern wie Tunesien, Marokko und Ägypten sich seit 2013 immer mehr Menschen als areligiös definieren. In den Ländern der Levante (Jordanien, Libanon, Irak, Palästina) hingegen haben sich die Zahlen seit 2013 nur leicht verändert.
«In Ländern wie Libanon beruhen Religionen weiterhin auf einer Konfessionsordnung. Zugehörigkeit wird dort vielfach entlang von Religionsgrenzen definiert. Dies sagt natürlich nichts über die tatsächliche Frömmigkeit oder Religiosität aus», erklärt der Direktor des Kompetenzzentrum Forum Islam und Nahost an der Universität Bern. «In Algerien, Tunesien und Libyen hingegen hat Religion stärker an Bindungskraft verloren, da hier die sozialmoralischen Milieus, die bislang die Religionen trugen, zunehmend erodieren. Dies zeigt sich auch darin, dass in Nordafrika grosse Teile der jüngeren Bevölkerung auch die Bindung an die Gesellschaft verlieren und bis zu 40 Prozent der Bevölkerung den Wunsch hegen, auszuwandern.»

Konsumorientierte Erlebnisfrömmigkeit versus ultrareligiöse Kampfbünde
Augenfällig in der Umfrage ist, dass sich 18 Prozent der unter 30-Jährigen als nicht-religiös bezeichnen. «Religion im Nahen Osten, und damit grossmehrheitlich der Islam, büsst seine normative Kraft ein und trägt vor allem unter der jungen Generation immer weniger zum sozialen Zusammenhalt in der Gesellschaft bei», sagt Schulze.
Insofern sei es, richtig zu sagen, dass die Gesellschaften im Nahen Osten immer weniger religiös seien. Das treffe aber nur auf jene Ordnung zu, die wir Gesellschaft nennen. «Die Prozesse in Ländern wie Syrien, Jemen, Libyen und partiell Irak zeigen, dass parallel zum Verfall der gesellschaftlichen Ordnung der Konsens, was Religion sei, massiv eingebrochen ist», sagt Schulze. Seit Beginn des 21.Jahrhunderts seien Phänomene wie beispielsweise eine personalisierte, konsumorientierte Erlebnisfrömmigkeit oder ultrareligiöse Kampfbünde zu beobachten. «In allen Fällen meinte die Eigenschaft <religiös> nicht mehr dasselbe», so Schulze.
Die Selbstcharakterisierung als nicht-religiös meint im islamischen Kontext zweierlei, erklärt Schulze: «Entweder die Negation einer sozialen Zugehörigkeit, dann ist sogar eine nicht-religiöse Religiosität möglich. Oder als Negation einer Religiosität, die aber die Zugehörigkeit zum Islam bestehen lässt.» Nehme man beide Optionen zusammen, werde deutlich, dass der Begriff «Islam» kaum noch den Bedingungen moderner Eindeutigkeit genüge. «Sagt man so von sich, man sei nicht religiös, dann kündet sich auch hier jener Verlust an Eindeutigkeit an, der für postmoderne Ordnungen so typisch ist», sagt der Professor für Islamwissenschaft und Arabistik.

Ausnahme Jemen
Während in allen befragten Ländern die Bindungskraft der Religion zurückgeht, hat einzig im Jemen die Religiosität zugenommen: 2013 bezeichneten sich rund knapp über 10 Prozent als nicht-religiös, 2019 waren es noch rund 5 Prozent. «Religiosität ist im Jemen primär ein Merkmal von Zugehörigkeit», erklärt Schulze. Seit 2005 habe die Konfessionalisierung der Religionen massiv zugenommen. «Auch hier erodiert die alte soziale Ordnung, die vor allem auf der Bindung an die Stämme beruht. Religionsgemeinschaften definieren neue Formen der Zugehörigkeit, zugleich werden diese in grosse konfessionelle Blöcke eingeteilt – vor allem als Sunniten und Schiiten.»
Reinhard Schulze zeigt sich in erster Linie von der Geschwindigkeit des Vertrauensverlust in die Religion und parallel dazu in die Gesellschaft überrascht: «Offensichtlich zeichnen sich jetzt die Langzeitwirkungen ab, die durch den Arabischen Frühling mit ausgelöst wurden.Ähnlich wie bei der sich durch den Saharastaub verstärkenden Gletscherschmelze gib es Ko-Faktoren, die dazu führen, dass sich der Vertrauensverlust verstärkt.»

Nicola Mohler, reformiert.info, 11. Juli, 2019 

 

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