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«In der islamischen Tradition gilt, dass sich Ordnungen mit der Zeit verändern»

von Marius Schären, reformiert.info
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01.02.2023
Das wegweisende Kompetenzzentrum von Islamwissenschaftler Reinhard Schulze in Bern schliesst. Er sagt, wie er während 50 Jahren Verständnis zu schaffen versuchte.

Herr Schulze, Sie befassen sich seit ĂĽber 50 Jahren mit der arabischen Kultur und Islamwissenschaften. Was ist fĂĽr Sie das Faszinierendste daran?
Immer wieder glaubt man, etwas «Fremdes» erkannt und erforscht zu haben – und dann stellt sich heraus, dass es nicht nur eine Ähnlichkeit mit dem Eigenen gibt, sondern dass man sich letztlich im Spiegel der Andersartigkeit selbst erkennen kann. Oder anders gesagt: Der Nahe Osten ist eng mit unseren eigenen Welten verwoben: Das finde ich besonders faszinierend an der Beschäftigung mit den politischen, sozialen und kulturellen Welten dort.

Ganz das Gleiche ist es ja aber nicht. Erleben Sie dabei auch einen Perspektivenwechsel?
Ja, faszinierend ist es durchaus auch, die Welt von einem anderen Beobachterstandpunkt aus zu sehen, statt aus der gewohnten europäischen Perspektive, mit der die meisten von uns aufgewachsen sind. Und schliesslich ist da noch die spannende Vielfalt der Sprachen, Kulturen, Wissenswelten und Religionen und ihrer historischen Entwicklungen, in denen Menschen ihrer Welt begegnen und ihr Sinn geben.

Die Welt hat sich ziemlich verändert in 50 Jahren. Was haben Sie im Nahen Osten beobachtet?
Da ist kaum ein Stein auf dem anderen geblieben; es gab einen tiefgreifenden kulturellen, politischen und sozialen Wandel. Dieser hat im Kern eine ähnliche Dimension wie der, den auch die europäisch-westliche Welt erlebt hat, mit Säkularisierung, Entkirchlichung des Lebens, Migration und Globalisierung. Doch die Entwicklungslinien verlaufen unterschiedlich.

Inwiefern?
In Europa erleben wir Säkularisierung und Globalisierung vor allem als Prozess der Verdrängung des Religiösen, gewissermassen als Altlast der Gesellschaft. In der nahöstlichen Welt hat sich vor 50 Jahren die Religion dagegen in besonderer Weise in die Gesellschaft eingeschrieben: Sie wurde zum Sprachrohr einer neuen Säkularität, die sie für ein oder zwei Generationen zu einer festen gesellschaftlichen Institution werden liess. Heute erleben wir nun, wie auch in der nahöstlichen Welt die Religion aus der säkularen Ordnung verdrängt wird. Für viele Menschen, gleich welcher Religion sie sich zugehörig fühlen, entsteht dadurch eine sehr persönliche Form von Religiosität.

Aber Tendenzen zu Radikalisierung sehen Sie auch?
Ja, in einem zweiten Prozess: In manchen Kontexten wird Religion so radikalisiert und verabsolutiert, dass sie jenseits der Ordnung zu stehen scheint, in der wir leben. Durch diese Ultrareligiosität wird Religion völlig neu oder besser neu erfunden, wie die Beispiele des «Islamischen Staates» oder von al-Qaida zeigen.

Das Forum Islam und Naher Osten (FINO) an der Uni Bern hatte auch zum Ziel, Vorurteile abzubauen. Welche davon sehen Sie hierzulande als gravierend an?
Das gravierendste Missverständnis beruht auf der Annahme, im Nahen Osten oder im Islam sei alles ganz anders, als wir es kennen. Hinzu kommt, dass wir uns den Islam als eine durch den Koran festgelegte Ordnung vorstellen, die alle in ihrem Denken und Handeln unabänderlich prägen würde, die sich dem Islam zugehörig fühlen. Selbst Begriffe wie Scharia, Koran oder Sunna werden missverstanden und für in Stein gemeisselte Institutionen gehalten. Der Islam – so die verbreitete Vorstellung – habe in seiner Frühzeit eine Ordnung geschaffen, die alles vorbestimmt habe, was heute als islamisch gilt.

Und das alles ist falsch?
Ja. Nichts davon stimmt, nur hartgesottene islamische Fundamentalisten würden dem zustimmen. In der islamischen Tradition gilt, dass sich alle Ordnungen im Wandel der Zeiten verändern, dass das, was als Islam gedacht wird, immer nur eine historische Momentaufnahme ist. Und dass muslimische Menschen den Islam im Umgang mit den lebendigen islamischen Traditionen immer wieder neu erschaffen – wie wir im Falle des ultraislamischen Radikalismus sehen, eben mit auch sehr negativen und destruktiven Auswüchsen.

Können Sie manchmal bei sich selbst entdecken, dass Sie Eigenheiten der arabischen Kultur und Menschen nicht unvoreingenommen begegnen?
Da gibt es nicht viel, denn was manche als Eigenheiten der arabischen Kultur begreifen, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung schnell als eine in den eigenen Welten vertraute Praxis. So konnte ich bisweilen bei mir selbst feststellen, dass ich auf betont patriarchalische, frauenverachtende Haltungen ungeduldig, ja bisweilen sogar empört reagierte, insbesondere dann, wenn sie mit arabischen oder islamischen Traditionen gerechtfertigt wurden. 

Was waren Hauptziele des FINO?
Zu den Aufgaben des FINO zählte, das an Universitäten erarbeitete Wissen über politische, kulturelle und soziale Prozesse in der islamischen Welt allgemein und im besonders Nahen Osten der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen – und zwar so, dass eine bessere Urteilsbildung möglich wird. Es ging also darum, die Wissensvoraussetzungen für die öffentliche Debatte etwa über den Islam in der Schweiz, den Terror der Ultra-Islamisten oder den Nahostkonflikt zu verbessern.

Ist das gelungen?
Das FINO ist ja ein Pilotprojekt. Ich denke, die Arbeit daran hat gezeigt, wie ein solcher Transfer aussehen kann, welche thematischen und inhaltlichen Schwerpunkte zu berücksichtigen sind und wie das Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit auf die Forschung zurückwirken kann. Schwierig war, diese dritte Aufgabe der Universität neben den bekannten Aufgaben von Forschung und Lehre so in das akademische Selbstverständnis zu integrieren, dass die Universitätsangehörigen selbst das Bedürfnis verspüren, ihr Wissen in geeigneter Weise der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Die Zustimmung zu dieser Aufgabe ist zwar gross, wird aber vielfach noch skeptisch gesehen.

Wie sehen Sie die Rolle des Christentums im Nahen Osten ĂĽber die vergangenen 50 Jahre?
Das Christentum im Nahen Osten ist in dieser Zeit massiv unter Druck geraten. Einerseits wegen den eingangs beschriebenen Prozessen, andererseits hat sich die Religion im Nahen Osten vor allem in den letzten Jahren sehr viel stärker konfessionalisiert. Das heisst: Religion ist nicht mehr nur institutionell geprägt mit Moscheen, Kirchen oder Synagogen. Zunehmend wurde Religion auch zu einer umkämpften gesellschaftlichen Ordnung und damit zum Austragungsort gesellschaftlicher Konflikte. Dabei haben es die christlichen Gemeinschaften als Minderheitenreligion nicht leicht, sich gegenüber den muslimischen Gemeinschaften zu behaupten.

Ist das auch an Zahlen ablesbar?
Es gab eine verstärkte Auswanderung, der Anteil der christlichen Bevölkerung in den östlichen Ländern ist rückläufig. Grob geschätzt hat sich die Zahl der Menschen, die sich dem Christentum zugehörig fühlen, seit 1900 halbiert. Doch in den letzten zehn Jahren hat sich die Lage der Christen trotz des Terrors des sogenannten Islamischen Staates stabilisiert, in den Ländern der arabischen Halbinsel sogar deutlich verbessert.

Das klingt ĂĽberraschend. Inwiefern verbessert?
Der Wandel hat in den Golfstaaten eingesetzt und gewinnt langsam auch in Nachbarländern an Bedeutung. Das hat sicherlich auch mit einer tiefgreifenden Veränderung der Stellung der Religionsgemeinschaften in der öffentlichen Ordnung dieser Länder zu tun. Beobachter sprechen schon von einem massiven «Religionsverlust» in der Bevölkerung. Manche Staaten versuchen hierauf mit einer neuen Religionspolitik zu reagieren, die auch den christlichen Kirchen neue Spielräume eröffnet. Und daneben versuchen auch evangelikale Freikirchen vor allem in der Levante, die entstehende Lücke zu füllen.

Und wie könnte sich das Christentum in dieser Region in nächster Zeit entwickeln?
Die christliche Tradition wird in den Ländern des Orients weiterhin eine wichtige Rolle spielen. Vor allem im Irak, in Syrien, im Libanon und in Ägypten – den Stammländern des nahöstlichen Christentums – werden christliche Akteure auch in der politischen Öffentlichkeit mehr Raum einnehmen. Allerdings hat das Christentum im Nahen Osten mit der Schwierigkeit zu kämpfen, dass es sehr eng mit den lokalen nationalistischen Institutionen verbunden ist. Vor allem in Syrien und im Libanon repräsentiert es die Ordnung der herrschenden Machthaber durch eine national-religiöse Haltung mit. Ich gehe davon aus, dass sich dies in der nächsten Generation deutlich ändern wird und die christlichen Kirchen eine Praxis jenseits von Konfessionalismus und Nationalismus entwickeln werden.

 

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