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Kolumne von Alfred Bodenheimer

Israel quo vadis? Rechter, religiöser und ärmer?

von Alfred Bodenheimer
min
07.07.2023
Israel ist in diesem Frühjahr 75 Jahre alt geworden. Unter der gegenwärtigen Regierung treten innere Probleme des Landes an die Oberfläche, die lange unter den Teppich gekehrt wurden. Alfred Bodenheimer erzählt, warum es in Israel neuerdings linke und rechte Fahnen gibt.

Vor kurzem gingen meine Frau und ich mit unserem einjährigen Enkel in Jerusalem spazieren. Er war im Kinderwagen eingeschlafen, und um ihn vor der Sonne und vor Fliegen zu schützen, spannten wir die ziemlich grosse Israel-Fahne, die in der Tasche des Kinderwagens lag, über ihn. Doch wir suchten einen luftdurchlässigeren Schutz als dieses Stück Polyester, deshalb ging meine Frau in ein Geschäft für Babyartikel, um ein Stofftuch zu kaufen, während ich mit dem Kinderwagen auf dem Trottoir blieb. Vor dem Laden nebenan sass dessen Besitzer, der auf Kundschaft wartete. «Ist das eine linke Flagge oder eine rechte Flagge?», fragte er mich. «Es ist eine israelische Flagge», sagte ich. «Ich könnte auch eine Schweizer Flagge nehmen, aber das ist die, die ich dabeihabe.» Er lachte: «Ich vermute ja, du hast sie wegen der Mundialito hier hängen.» Tags zuvor hatte das israelische Team mit einem Sieg gegen Brasilien das Halbfinal der U-20-Fussball-WM erreicht, was die Welt kaum zur Kenntnis nahm, hier aber das Tagesthema schlechthin war. «Genau», meinte ich lachend und legte die Fahne, da meine Frau mit einem dünnen Baumwolltuch aus dem Laden kam, wieder zusammen.

Links wird als Schimpfwort für die Opposition benutzt, obwohl die wöchentlichen Demonstrationen durchaus von Liberalen und Konservativen mitgetragen werden.

Fahne an den Massendemonstrationen

Natürlich hätte ich dem Mann ehrlich antworten können, meine Fahne sei eine «linke» Fahne, also eine, die seit Januar an den wöchentlichen Massendemonstrationen gegen die Regierung und ihren Versuch, das Rechtswesen des Landes zu politisieren, tausendfach geschwungen wird, und keine «rechte», die identisch an den selteneren Pro-Regierungsdemos weht. Aber ich hatte keine Lust auf eine politische Diskussion, zumal in Jerusalem die Mehrheit der Menschen als regierungsfreundlich gelten darf und schon die Bezeichnung der Fahne als «links» darauf hindeutet, dass der Mann sich selber «rechts» verortet. Denn dort wird «links» als Schimpfwort für die Opposition benutzt und bewusst ignoriert, dass die wöchentlichen Demonstrationen durchaus von Liberalen und Konservativen mitgetragen werden.

Die Anekdote illustriert aber, wo sich Israel 75 Jahre nach seiner Gründung befindet. Selbst die Landesfahne ist, wie die Gesellschaft selbst, aufgeladen mit Widersprüchen.

Im unlängst erschienenen «World Happiness Report», der die Jahre 2020–2022 zusammenfasst, figuriert Israel auf dem beeindruckenden 4. Rang von 137 Staaten, unmittelbar hinter drei skandinavischen Ländern, vier Plätze vor der Schweiz und Lichtjahre vor allen seinen Nachbarn, deren bestklassierter die Palästinensische Autonomiebehörde auf Rang 99 ist.

Israel ist ein Meister im Verdrängen

Die Glücksgefühle der Israelis beruhen teilweise auf nachvollziehbaren Gründen. Das Land ist innovativ, hat sich Wohlstand erarbeitet, und seit den Abraham-Abkommen 2020 sind Selfies im früher unerreichbaren Dubai zum Statusobjekt schlechthin geworden. Doch Israel ist auch ein Meister im Verdrängen. Die ungelöste Situation zwischen Israel und den Palästinensern und die damit verbundene Besatzung ist das international am stärksten wahrgenommene Problem, das in Israel fast schon ein Randthema ist, wenn nicht gerade Attentate oder Raketen aus Gaza den Alltag trüben. Doch auch Probleme im Innern sind lange unter den Teppich gekehrt worden.

Das Land steht an einer Wegscheide: Ist es ein Nationalstaat all seiner Bürger oder gilt seine Existenz letztlich dem Durchsetzen einer jüdischen Agenda?

Der Aufruhr um geplante Massnahmen der Regierung hat die Defizite wie eine ungeheure Druckwelle in die Sichtbarkeit empor gewirbelt. Das Land steht an einer Wegscheide: Ist es ein Nationalstaat all seiner Bürger oder gilt seine Existenz letztlich dem Durchsetzen einer jüdischen Agenda? Ist es Zufluchtsort für die Juden der Welt oder ein messianisches Projekt? Will es eine Bildungspolitik fördern, die Wirtschaft und Wissenschaft ins Zentrum stellt, oder das Studium der jüdischen Quellen? Glaubt es an einen Ausgleich mit den Palästinensern, oder gilt seine Anstrengung dem Ausbau des Siedlungswerks in der Westbank? Fokussiert sich sein Demokratiebegriff auf die Herrschaft der Mehrheit oder die Wahrung des Rechtsstaats? Kann es langfristig Korruption eindämmen, oder wird sie einfach gesetzlich sanktioniert? Nimmt es die notorisch rekordhohe Zahl an Verkehrstoten quasi als Naturgesetz in Kauf? Findet es ein Rezept gegen Gewaltverbrechen, die vor allem innerhalb des arabischen Sektors, aus Familienfehden, Abrechnungen und Ehrenmorden (bis Anfang Juni 2023 mehr als einen Mord alle zwei Tage hervorgebracht haben?

Rechtsgerichteter, religiöser und ärmer

Demografisch zeigt alles in die Richtung, dass Israel politisch rechtsgerichteter, religiöser, illiberaler und ärmer wird. Viele sehen deshalb in den Protesten der Regierungsgegner ein letztes Aufbäumen vorab der alten Eliten, die an den Rand gedrängt werden. Doch die Anhänger der Regierung, die sich neuerdings als «Bürger 2. Klasse» bezeichnen, geraten ebenfalls in Stress. Sie verstehen, dass auch eine ziemlich satte Mehrheit in der Knesset nicht ausreicht, um die wirtschaftlich potenten, wissenschaftlich innovativen und international vernetzten Gruppen, denen das Land letztlich seinen hohen Lebensstandard verdankt, einfach auszuschalten. Und nicht wenigen dürfte dämmern, dass ihnen selbst das auch gar nichts bringen würde. Die seit Jahresanfang rapide gesunkenen Investitionen aus dem Ausland angesichts rechtlicher Unsicherheiten, der Fall der Landeswährung Schekel (vor kurzem noch die stärkste Währung der Welt), die Aussichten auf sinkendes Kreditrating und steigende nationale Schuldzinsen, die dadurch verursachte Teuerung in allen Lebensbereichen lassen sich auch mit den ausgesuchtesten Populistenparolen nicht wegreden.

Was viele Israelis selbst am meisten überrascht, ist, dass sich aus einer weitgehenden politischen Passivität innert Wochen eine pulsierende Zivilgesellschaft gebildet hat.

Israel hat im Laufe seiner Existenz verschiedene Metamorphosen durchgemacht – allein seine Einwohnerzahl ist seit seiner Gründung um das Zwölffache gewachsen, aus dem sozialistischen Agrarstaat ist eine Startup-Nation geworden, vieles ist erreicht, manches verpasst, einiges verspielt worden. Was viele Israelis selbst am meisten überrascht, ist, dass sich aus einer weitgehenden politischen Passivität gerade der liberaleren Kreise innert Wochen eine pulsierende Zivilgesellschaft gebildet hat, die bisher mit einigem Erfolg für dieses Land kämpft, auf den Strassen, im Netz, durch finanzielle Zuwendungen an die Protestbewegung und auf manch andere Weise.

Das Judentum erfand sich immer wieder neu

In meinem Buch «Ungebrochen gebrochen. Über jüdische Narrative und Traditionsbildung» habe ich schon vor einigen Jahren zu zeigen versucht, dass das Judentum sich gerade dadurch über die Jahrtausende trug, dass es sich immer wieder neu erfand. Eine Streitkultur war das Judentum schon immer, durchaus nicht nur im negativen Sinne, denn die erbitterten Diskussionen über Sachfragen, wie sie schon im Talmud geführt werden, haben den Geist geschult und beweglich gemacht. Ob die in langer Diasporaexistenz ausgebildete Fähigkeit, Probleme kreativ anzugehen, auch die nationale Selbstfindung als Territorialvolk langfristig überlebt, bleibt die grosse Frage für die kommenden Jahre und Jahrzehnte Israels.

 

Alfred Bodenheimer

Alfred Bodenheimer Portait in schwarzweiss

Der Autor ist Professor für Religionsgeschichte und Literatur des Judentums an der Universität Basel und Krimiautor. Er lebt in der Schweiz und in Israel.

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Alfred Bodenheimer ist Professor für jüdische Literatur- und Religionsgeschichte an der Universität Basel. Sein Leben spielt sich zwischen der Schweiz und Israel ab. Vom Versuch, in einer kriegerischen Zeit Frieden zu finden.