«Je mehr Frauen leiten, desto grösser ist die Signalwirkung»
Rita Famos, der Jubiläums-Gottesdienst in Lostorf steht unter dem Motto «In gemeinsamer Mission unterwegs - lokal, kantonal, national». Wie sehr hat die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz die einzelnen Kirchgemeinden im Blick?
Die Kirchgemeinden bilden die Basis unseres Kirchenseins. Dort passiert das Wesentliche unseres Auftrags, die Verkündigung des Evangeliums in Wort und Tat. Dort sind wir nahe bei den Menschen, durch die Pfarrpersonen, die Sozialdiakone und all die Freiwilligen. Die Kirchgemeinden bilden die Vielfalt unseres Kirchenseins ab. Alle Trends und Entwicklungen fangen in den Kirchgemeinden an. Deshalb ist mir der Kontakt zu den Gemeinden wichtig, dort spüre ich, was die Sorgen sind und wo neue kirchliche Initiativen aufkeimen. Ich freue mich deshalb sehr, diesen Gottesdienst in Lostorf zu feiern. Zudem bin ich in Utzendorf, an der Grenze zum Kanton Solothurn aufgewachsen.
Evelyn Borer, Sie sind Präsidentin einer kleinen Kantonalkirche. Können diese neben den grossen wie Zürich und Bern bestehen?
Wir bemühen uns, präsent zu sein. Die Kunst in der Politik ist, Kooperationen zu finden, sei es mit anderen Kleinen oder mit den Grossen. Grundsätzlich stehen die Kantonalkirchen nicht in Konkurrenz. Wir haben die gleichen Aufgaben, die kleinen verfügen lediglich über weniger finanzielle und personelle Ressourcen.
Treten die Nordwestschweizer Kantonalkirchen bei der EKS gemeinsam auf?
Borer: Ja, wir bringen zusammen Vorstösse ein und können bei Wahlen, wie jetzt im Juni, auch Kandidaten gemeinsam unterstützen. So gelingt es uns, dass man uns wahrnimmt.
Rita Famos, was zeichnet die reformierte Kirche Kanton Solothurn aus?
Die Solothurner Kirche ist mit ihren ökumenischen Projekten, zum Beispiel in der Spitalseelsorge sehr innovativ unterwegs. Wie alle zahlenmässig kleinen Kirchen ist sie ein Vorbild für all die grossen Kantonalkirchen, die damit hadern, dass sie die Mehrheiten verlieren. Die Lebendigkeit und die Wirkung sind nicht abhängig von der Grösse. Dies vorzuleben, ist eine wichtige Funktion gerade der kleinen Kirchen.
Mit Ihnen beiden sind die höchsten Ämter der Evangelisch-reformierten Kirche der Schweiz mit Frauen besetzt. Das ist historisch einmalig. Was bedeutet dies für die religiöse Landschaft?
Borer: Das zeigt, Frauen können genauso gut oder besser führen. Ich hoffe, dass wir mit unserer Präsenz die weiblichen Kräfte stärken und anderen Frauen zeigen, ihr könnt das ebenso gut. Selbst wenn ihr ein rauer Wind entgegenweht, kann Frau standhalten. Man darf nicht übersehen, die Führungsstruktur in der Kirche ist nach wie vor männlich. Frauen sind in den Leitungen noch immer in der Minderheit.
Famos: Klar gab es ein grosses Medienecho, als ich als erste Frau zur Präsidentin der EKS gewählt wurde. Ich habe aber das Gefühl, im Alltag ist Leitung durch Frauen selbstverständlich geworden. Und je mehr Frauen Leitungsämter wahrnehmen, desto grösser die Signalwirkung für andere Frauen. Und wir zeigen den anderen Religionsgemeinschaften, die Kirche geht nicht unter, wenn Frauen führen (lacht).
Die katholische Kirche kennt auf dieser Stufe nur Männer. Nehmen die Bischöfe Sie als Frau ernst?
Famos: In der Ökumene pflegen wir eine gute Zusammenarbeit, wir begegnen uns auf Augenhöhe. Die Bischöfe könnten es sich im Schweizerischen Kontext gar nicht leisten, uns Frauen nicht ernst zu nehmen.
Und mit den anderen Religionen?
Famos: Auch im Rat der Religionen, in dem ich die einzige Frau bin, spielt es keine Rolle, ob die Vorstösse von einem weiblichen oder männlichen Mitglied kommen.
«Ich habe die Vision, dass die Kirche der Ort sein könnte, wo man miteinander in aller Verschiedenheit zusammenkommt.»
Rita Famos
Rita Famos, anlässlich Ihrer Wahl zur Präsidentin der EKS haben Sie gesagt, die Kirche biete einen «geschützten Raum, wo Menschen mit unterschiedlichen Meinungen miteinander im Gespräch sind». Unsere Gesellschaft ist sehr polarisiert. Könnte dies eine der wichtigen Aufgaben der Kirchen in der Zukunft sein?
Ja, ich habe die Vision, dass die Kirche der Ort sein könnte, wo man miteinander in aller Verschiedenheit zusammenkommt. Ich habe in den vergangenen Jahren erlebt, dass man trotz Kontroversen gute Gespräche führen kann. Natürlich gibt es Diskussionen, die nicht von einer guten Streitkultur zeugen und die Polarisierung der Gesellschaft abbilden. Die Art und Weise, wie heute teils in den persönlichen Zuschriften verurteilt und gedroht wird, schockiert mich. Ich denke, wir können uns in unserer Streitkultur noch verbessern.
Über was regten sich die Leute auf?
Famos: Die Schreiben bezogen sich auf die «Ehe für alle» und die Aufarbeitung der Causa Locher. Ich finde es wichtig, dass man sich äussert, wenn man nicht einverstanden ist. Man muss dabei aber nicht gleich das Jüngste Gericht auffahren. Doch wir sollen streiten. Die reformierte Kirche ist aus der Disputation entstanden. Die Frage ist nur, wie streitet man? Der Disput sollte von Argumenten geleitet sein und nicht von persönlichen Beleidigungen.
Evelyn Borer, welche gesellschaftlichen Aufgaben werden die Kirchen künftig haben?
Die Aufgaben bleiben die gleichen wie heute. Es wird aber schwieriger, sie zu erfüllen. Für mich ist die Seelsorge zentral, und dies nicht nur als Institution. Die Kirchgemeinden können mit ihren Freiwilligen im sozialen Bereich einen anderen Kontext bieten als die politischen Gemeinden. Sie können Gemeinschaft bieten für Leute, die den Anschluss nicht finden oder die bei uns aufgenommen werden müssen. Wie jüngst die ukrainischen Flüchtlinge. Solche Hilfeleistungen haben viel mit Seelsorge zu tun. Eine andere Aufgabe der Kirche ist die Verkündigung, die mit Hoffnung verbunden ist.
Was sind die Herausforderungen für die reformierte Kirche?
Famos: Wir sollten vor lauter Sorge über den Mitgliederverlust und die schwindenden Ressourcen die Freude am lebendigen und vielfältigen Kirchensein nicht verlieren. Unser Auftrag ist die Verkündigung des Evangeliums in Wort und Tat, den sollen wir fröhlich und selbstbewusst wahrnehmen. Die Diakonie, das Einstehen für eine solidarische Schweiz an der Seite der Schwächsten im Sinn der Bundesverfassung ist ein wichtiger kirchlicher Beitrag zum Wohlergehen der gesamten Gesellschaft. Gleichzeitig ist es unser Auftrag, die Wertedebatte zu führen und durch die Verkündigung Hoffnung und Zuversicht zu verbreiten. Dies sind unsere Kernaufträge, gerade auch in einer Gesellschaft, die säkularer wird.
Selbst dann, wenn die Zahl der Reformierten weiterhin abnimmt?
Famos: Ja, unser Auftrag bleibt relevant, auch wenn die Reformierten keine Mehrheit mehr bilden. Ich lerne viel aus der Begegnung mit der französischen Kirche oder den Waldensern in Italien. Auch als Minderheiten leisten sie Beachtliches. Wir jammern oft auf hohem Niveau. Besser wäre es, mit der Kraft der Botschaft ein gesundes Selbstbewusstsein auszustrahlen und uns nicht ständig auf die Nabelschau zu fokussieren. Das ist unsere Herausforderung. Wir sind nicht wegen uns als Kirche relevant, sondern weil wir eine kostbare Botschaft zu verkünden haben. Die Botschaft, dass Gott jeden Menschen ohne Bedingungen annimmt, und dies das Leben der Menschen prägt.
«Die Führungsstruktur in der Kirche ist nach wie vor männlich. Frauen sind in den Leitungen noch immer in der Minderheit.»
Evelyn Borer
Sie beide traten Ihr Amt an, nachdem der damalige Präsident Gottfried Locher auf Grund des Vorwurfs der Grenzverletzung zurückgetreten war. Die EKS hat diese Geschichte aufgearbeitet. Evelyn Borer, welche Lehren zieht die EKS aus der Causa Locher?
Die Untersuchungskommission hat 17 Empfehlungen festgehalten, die drei Schwerpunkte haben. Erstens: Man soll die Reglemente so anpassen, dass der Weg der Beschwerde gewährleistet ist, falls sich jemand belästigt fühlt. Zweitens: Man hat das Rollenverständnis des Präsidiums geklärt und die Aufgaben und Kompetenzen präzisiert. Und drittens: Man hat die Mitglieder für den Umgang miteinander sensibilisiert: Was darf man und was nicht? Wo finden Grenzverletzungen statt? Wichtig ist, der Umgang mit der Macht sowie die Verletzung der persönlichen Integrität verlangen als Themen stetige Aufmerksamkeit.
Gottfried Locher ist inzwischen, wie die Medien berichteten, aus der reformierten Kirche ausgetreten. Rita Famos, was sagen Sie dazu?
Es sagt viel aus, über seine damalige Motivation, Kirchenpräsident der Reformierten zu sein. Und es entspricht dem von ihm so viel kritisierten Zeitgeist zu sagen, ich bin zwar Christ und trete gleichzeitig aus der Kirche aus. Das ist eine Entsolidarisierung mit all den Menschen, welche die Traditionen, die Strukturen, den Auftrag und das kulturelle Erbe mit ihrem persönlichen und finanziellen Engagement aufrechterhalten.
Vom Austritt zum Eintritt: Welche Gründe gibt es, um in die Kirche einzutreten?
Borer: Um an der Wertedebatte teilzunehmen und Teil dieser Gemeinschaft zu werden, die sich in der Gesellschaft engagiert. Dies gehört für mich zum Menschsein.
Famos: In seiner Rede vor dem russischen Gericht hat Menschenrechtsaktivist Alexei Nawalny erklärt, das Ziel eines absoluten Staates sei es, die Menschen einsam zu machen und ihnen so die Kraft zu nehmen. In der Gemeinschaft ist eine unglaubliche Kraft. Die christliche reformierte Spiritualität hat zwei Aspekte. Das Individuelle: Du stehst direkt Gott gegenüber und kannst deinen Glauben frei leben. Und die Gemeinschaft: Die christliche Spiritualität führt in eine Gemeinschaft, in welcher der eine des anderen Last trage. Ohne Gemeinschaft ist unsere Spiritualität verkürzt. Man kann sich selber nicht genügen, man braucht den Diskurs mit den anderen, um das Wort auszulegen. Und alleine erzielt man nicht die gleiche Wirkung. Die Gemeinschaft hilft einem in Krisenzeiten, den Glauben lebendig zu halten. Wenn ich selber nicht mehr beten kann, dann kann der neben mir vielleicht für mich beten. Das sind Gründe, um ein Teil der reformierten Gemeinschaft zu sein.
Interview: Tilmann Zuber, kirchenbote-online
«Je mehr Frauen leiten, desto grösser ist die Signalwirkung»