«Je säkularer das Umfeld, desto stärker wächst das Empfinden, es fehle etwas»
Isabelle Noth, wie definieren Sie Gesundheitsseelsorge und wie unterscheidet sie sich von klassischer Seelsorge?
Die bisherige Seelsorge hat sich mit dem Thema Gesundheit konzeptionell primär im Rahmen der Spitalseelsorge beschäftigt. Diese spezialseelsorgliche Tätigkeit ist an eine medizinische Einrichtung gebunden und spezifischen Systemlogiken unterworfen.
Gesundheitsseelsorge macht Ernst damit, dass das Thema Gesundheit – insbesondere in theologischer Sicht – eine viel breitere Bedeutung hat und nicht auf Krankheit und Ausnahmesituationen beziehungsweise lebenskritische Phasen reduziert werden darf. In dem Sinne ist Gesundheitsseelsorge gesundheitssensible Seelsorge. Sie setzt beim Alltag von Einzelpersonen vor Ort in den Kirchgemeinden an und nicht beim Spezialfall vonPatientinnen und Patienten in Institutionen. Sie ist religionspsychologisch informiert über die Zusammenhänge zwischen Religiosität, Spiritualität und Gesundheit und bringt diese vernachlässigten Erkenntnisse an die Öffentlichkeit.
Der Ansatz der Gesundheitsseelsorge ist neu. Welche Trends sehen Sie für die Zukunft?
Ehrenamtliche Begleitpersonen werden vermutlich zukünftig eine wichtige Ergänzung zur professionellen Seelsorge sein. In der Schwerkranken- und Sterbebegleitung ist das schon seit vielen Jahren etabliert.
Wie kann Gesundheitsseelsorge in einem zunehmend säkularen Umfeld relevant werden?
Je säkularer das Umfeld ist, desto stärker wächst das Empfinden, es fehle etwas. So ist es kein Zufall, wenn ausgerechnet jetzt von der Medizin selbst nach einem neuen Gesundheitsverständnis gerufen wird. Kirchen und Theologie verweisen seit langem darauf: Gesundheit ist eben nicht nur die Abwesenheit von Krankheit und erschöpft sich auch nicht in einem vollständigen Wohlergehen. Gesundheit hat vielmehr mit der Kraft und der Fähigkeit zu tun, auch mit Krankheit zu leben, wie es der evangelische Systematiker und Pfarrer Hans-Martin Rieger in Anlehnung an Karl Barth ausführt.
Wie kann Gesundheitsseelsorge präventiv wirken?
Gesundheitsseelsorge geschieht im Interesse der Förderung oder Erhaltung ganzheitlicher Lebensqualität. Sich auf alters- oder krankheitsbedingte Veränderungen einlassen zu können, ist eine Kompetenz, die nicht nur oder erst in Krisen erworben wird. Gesundheitsseelsorge sensibilisiert für die Verletzlichkeit und Vergänglichkeit allen Lebens. Dies kann in allen kirchlichen Gefässen umgesetzt werden.
Besteht nicht die Gefahr, dass Seelsorge die professionelle medizinische Behandlung ersetzt oder unterläuft?
Es entspräche einem krassen Missverständnis, wenn dies als Anliegen der Seelsorge gesehen würde. Seelsorge will begleiten, nicht behandeln. Sie ist niederschwellig.
Wenn Sie einen «Notfall-Kit» für Gesundheitsseelsorger zusammenstellen könnten, was müsste unbedingt mit rein?
Atemübungen und Dankespsalmen. Bewusstes Atmen ist eine so einfache und hochwirksame Methode zur Beruhigung, und Dankbarkeit wiederum verändert die Weltsicht fundamental.
Sie sind Expertin für Gesundheit: Hand aufs Herz: Wie geht es Ihnen?
Ich bin voll berufstätig und pflege zugleich meine von Alzheimer betroffene Partnerin. Ich lote die Demenzfreundlichkeit meines Umfelds aus und bin dankbar für Verständnis und Unterstützung und insbesondere dafür, dass meine Partnerin ihre grosse innere Zufriedenheit über so lange Zeit nun schon beibehält.
Wie ist Ihr Eindruck, wie geht es der Schweizer Bevölkerung?
Am meisten Sorgen bereiten mir die Zahlen zum Zustand unserer Kinder und Jugendlichen. Sie brauchen Erwachsene, die ihnen Halt geben und zeigen, was es heisst, Verantwortung zu übernehmen und Mitgefühl zu haben.
«Je säkularer das Umfeld, desto stärker wächst das Empfinden, es fehle etwas»