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«Jesus heilte die Angst der Menschen durch seine Güte»

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24.10.2019
Eugen Drewermann ist einer der renommiertesten Theologen Deutschlands. Für ihn gründete Jesus keine Religion, sondern er ruft die Menschen ins Leben.

Eugen Drewermann, Ihr neuestes Buch heisst «Das Geheimnis des Jesus von Nazareth». Da drängt sich die Frage auf, was ist dieses Geheimnis?
Wer verstehen möchte, wer Jesus gewesen ist, muss begreifen, dass Jesus nicht war, sondern eine verpflichtende Gegenwart darstellt. Die Antwort auf die Frage nach Jesu beginnt damit, dass man anfängt, das eigene Leben mit den Augen des Mannes aus Nazareth zu betrachten. Man fühlt sich dann von ihm bei der Hand genommen, begleitet auf dem Wege zu sich selber, zu Gott und in eine neue Zukunft hinein.

Schön, doch für die meisten ist Jesus in erster Linie eine historische Gestalt.
Der Jesus, von dem die Jünger und die Evangelien berichten, war nie Vergangenheit, sondern ist Gegenwart, die Menschen hilft und sie in eine hoffnungsvolle Zukunft weist. Jesus ist der Mann, der wiederkommt, um uns zu sagen, wie gütig das Leben zu uns ist und wie es sich ausweiten könnte in Gottes Güte hinein.

In den Evangelien wird er als Rabbi bezeichnet. Ist dies berechtigt?
Jesus hat nie nach Art der Schriftgelehrten gesprochen und gehandelt. In dem Sinn war er kein Rabbi, er wollte keine neue Religion stiften. Er wollte die Religion seiner Väter, das Judentum, in dem er lebte, auf seinen eigentlichen Kern zurückführen. Er wollte die Menschen mit Gott versöhnen. Deshalb mag man ihn den Sohn Gottes nennen.

Viele sahen in ihm einen Propheten.
Man bezeichnet Jesus als Propheten, denn er hat die eigene Identität zum Sprachrohr Gottes gemacht. In Gott geht sein ganzes Leben auf. Jesus ist ein Visionär, der die Begrenztheit und die Enge der Gegenwart aufbricht mit Bildern, die uns nicht vor die Wahl stellen zwischen Alles oder Nichts, Heil oder Unheil oder Gut oder Böse.

Und er wird als Arzt bezeichnet, der Wunder wirkte.
Jesus war ein Arzt, auch das wird im Neuen Testament berichtet. Aber nicht im Sinne einer professionellen Kunst, er heilte die Angst der Menschen durch seine Güte. Er legte Menschen die Hand auf und streichelte ihre Stirn und gab sie aus dem angstverwirrten Zustand sich selber zurück.

Die Kraft des Nazareners beruhte auch auf dem Wort. Bis heute faszinieren seine Bergpredigt und seine Gleichnisse. War er ein guter Rhetoriker?
Jesus sprach als Dichter, nicht um der Literatur willen, sondern um den Menschen in die Seele und aus der Seele zu sprechen. Seine Bilder öffneten der menschlichen Existenz die Fenster zum Himmel. Jesus sah in den kleinen alltäglichen Dingen Gottes Handwerk. Eines seiner schönsten Gleichnisse ist das vom verlorenen Schaf. Jesus beschreibt die Alltagssituation eines Hirten, der am Abend feststellt, dass sich eines seiner Tiere verlaufen hat. Er weiss, dass er es suchen muss. So macht es Gott mit uns. Auch er gibt uns nicht auf. Mit seinen poetischen Bildern und Gleichnissen fasst Jesus den Gesang der Sehnsucht im Herzen der Menschen in Worte. Er berührt uns, sodass sich unter der Oberfläche etwas ändert. Es geht da nicht um Rhetorik, sondern um menschliche Berührung, die wohltut.

Sie sprechen von Wohltat. Die damalige Elite in Israel sah in dem Mann aus Nazareth eine Gefahr.
Mit seinen Reden und seinem Handeln wird Jesus unvermeidbar zum Revolutionär. Jesus sagt: «Auf den Thronen der Mächtigen sitzen die Herrschenden und willküren herab auf ihre Untertanen, sie lassen sich dafür noch Wohltäter nennen. Bei euch soll dies nicht so sein. Wer unter euch gross sein will, frage sich, wer am dichtesten auf den Boden gedrückt ist und wie man ihm aufhelfen kann.» Das ist die Kritik von Jesus an aller Art Politik, die ausgerichtet ist auf Macht. «Wer euch auf die eine Wange schlägt, dem haltet die andere hin», sagt er in der Bergpredigt. Und meint: Auf lange Sicht wird der Weg der Gewalt scheitern. «Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen», sagt er später bei seiner Verhaftung. Für ihn bedeutet Militär die Praxis endloser Gewalt.

Und die Rechtsprechung?
Was die Justiz angeht, meint Jesus zu Beginn der Bergpredigt, wenn eure Vorstellung von Gerechtigkeit nicht diametral verschieden ist von jener der Schriftgelehrten und Pharisäer, werdet ihr Gott nie verstehen. Die Frage ist nicht, wie man über Menschen richtet, sondern wie man ihnen in der Not gerecht wird. Alles ändert sich, sobald man Jesus versteht.

Wie würden Sie den Kern der Botschaft von Jesus beschreiben?
Die steht am Anfang des Markusevangeliums: Jesus steht am Beginn seines öffentlichen Wirkens. Er wird von seinen Erfahrungen umgetrieben, als er Johannes dem Täufer gegenübersteht. Johannes spricht von dem Gericht, mit dem Gott droht, von der moralischen Strenge, mit der die Menschen ihr Leben ordnen sollen. Jesus hält dies für richtig, er glaubt dem Propheten am Jordan. Aber im Moment als er sich taufen lässt, öffnet sich der Himmel und eine Stimme sagt: «Aber du bist mein Sohn.» Diese Erfahrung prägt Jesus. Sie bildet den Kern seiner Botschaft, die er den Menschen schenken will. Da gibt es einen Gott, der nicht verurteilt, der niemals richtet, der wie ein Hirte auf die Suche nach dem verlorenen Schaf geht. Es kann auch dir im Leben passieren, dass du dich verlierst. Gott aber wird dich nie verstossen, sondern bei dir sein. «Ich bin doch dein Vater und du bist mein Sohn.» Gott vergisst dich nie. Davon lebt Jesus.

Das ist der Schlüssel zum Verständnis der christlichen Verheissung.
Das ist seine innere Erfahrung, die alles ändert. Johannes verlangte die Umkehr im Sinne einer moralischen Besserung. Jesus möchte die Umkehr von dieser Umkehr, er redet vom Vertrauen in eine unbedingte Güte, die uns empfängt, umhüllt, uns begleitet, uns sucht und uns betrifft, in jeder Lebenslage. Dieses unbedingte Vertrauen ist die Art, wie Jesus Kranke heilt, mit der er Menschen mit seinem Wort berührt, mit dem er den Himmel auf die Erde herunterholt.

Bewegt er sich so von Religion, Kirche und Moral weg, wie Sie einmal gesagt haben?
Jesus wollte keine neue Religion gründen, er wollte die vorgefundene, sein Judentum, so verwesentlichen, dass es für alle Menschen gilt. Das Programm Jesu ist nicht das einer jüdischen Reformsekte, sondern seine Botschaft gilt für alle. Seine Botschaft sagt, dass kein Mensch einfach gut sein kann, nur weil er es will. Der Mensch ist nicht frei sich selber gegenüber, er lebt inmitten von Angst und Schuldgefühlen. Er muss befreit werden für ein Vertrauen, das ihm hilft, zu sich selber zu kommen. Was Jesus da entdeckt, können wir im 20. und 21. Jahrhundert mithilfe der Psychoanalyse ein Stück weit nachbuchstabieren.

Die Welt jedoch braucht Moral und Gesetze. Stimmen Sie zu?
Gewiss. Insofern braucht man die Moral, um für Ordnung zu sorgen. Aber man kann ihre Inhalte erst erfühlen unter einer Voraussetzung, die keine Ethik zu geben vermag: Dem unbedingten Vertrauen in die Güte Gottes. Wir können nicht gut sein, weil wir wollen. Wir können nur grad so gut werden, wie wir an Güte erfahren haben und glauben können.

Zurzeit haben es die Kirchen in Westeuropa schwer. Was müssten sie ändern, um die Menschen besser zu erreichen?
Die Kirche müsste sich selber ernst nehmen. Im römischen Kirchenrecht steht, dass das Heil der Seele alle anderen Gesetze, die erlassen werden, relativiert. Wenn das gilt, müsste man den Sinn der Gesetze tiefer und besser verstehen, man müsste die Liebe so begreifen, dass man sie nicht einkesselt in regulative und doktrinäre Gebote. Man müsste lernen, den Menschen zuzuhören, und ihnen zeigen, dass sie ohne das Vertrauen, das Jesus ihnen schenkt, gar nicht selber leben können. Wir brauchten die Güte Jesu, um all den Abgründen standzuhalten. Das wäre ein wirklicher Glaube und ein Vertrauen gegen die scheinbaren Evidenzen der Welt, wie dass nur Gewalt Sicherheit bringt, Konsum Befriedigung und Rechtsprechung Gerechtigkeit.

Ist dies nicht eine Utopie? Ein Traum?
Man könnte dies glauben, die Geschichte ist ja nicht die Bestätigung der Offenbarung Jesu, auch nicht in der Kirche. Wenn man dies erkennt, muss man von vorne beginnen und die leise Stimme Jesu in den Evangelien hören, als bleibend gültig. Oder die Botschaft der Engel am offenen Grab in Matthäus 28. Der Engel sagt zu den Frauen: «Geht dahin zurück, wo er gesprochen hat, nach Galiläa, dort ist er euch voraus.» Und während die Frauen dies tun, kommt Jesus ihnen entgegen. Jesus ist unterwegs zu den Menschen, darauf muss man nur vertrauen. Dann werden wir uns fragen: Muss es Kriege geben? Braucht es Gewalt, braucht es klare Ordnungen, wollen wir so weitermachen?

Und dürfen wir darauf vertrauen?
Ja, denn es gibt die Auferstehung, es gibt die Gewissheit, dass Gott stärker ist als all der Spuk. Es gibt die Hoffnung, dass wir aus der Angst ausbrechen können.

Tilmann Zuber, kirchenbote-online, 24. Oktober 2019

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