«Jetzt liegt der Ball beim Bundesrat»
Frau Lieberherr, zusammen mit zehn anderen Entwicklungsorganisationen fordert «Brot für alle» die Schweizer Banken dazu auf, die 5,7 Milliarden Franken abzuschreiben, die sie den 86 ärmsten Ländern vergeben haben. Wieso gerade jetzt?
Die Corona-Krise hat die Wirtschaftslage vieler armer Länder dieser Welt dramatisch verschärft, so droht vielerorts bald Hunger. Gleichzeitig versinken viele der Länder immer mehr in der Verschuldung. Die Schuldenlast von Entwicklungsländern ist von 2013 bis 2017 von 30 auf 50 Prozent des Bruttosozialproduktes gestiegen. Die Forderung zum Schuldenerlass ist jetzt besonders dringend, weil wir sehen, dass viele arme Länder die Corona-Krise auch mit den gesprochenen Hilfspaketen von der UNO oder dem internationalen Währungsfond nicht bewältigen können. Deshalb müssen diese Staatshaushalte entlastet werden. Eine Möglichkeit dazu bietet der Schuldenerlass: Die Gelder, die sie den Banken zurückzahlen, können so im Gesundheitswesen eingesetzt, oder für den Kampf gegen Hunger und bitterer Armut genutzt werden.
Wieso unterstützt «Brot für alle» die von Alliance Sud initiierte Initiative?
«Brot für alle» setzt sich für gerechtere Strukturen ein, strebt nach einer gerechteren Welt. Es ist also selbstverständlich, dass «Brot für alle» diese Forderung mitunterschreibt. Schon seit den Unabhängigkeitskämpfen in vielen ehemals kolonisierten Ländern ist die Frage, wie gerecht eigentlich diese Schulden sind, ein wichtiges Thema. Ausserdem würden viele Länder, in denen wir politisch arbeiten, vom Schuldenerlass profitieren – etwa Sierra Leone oder Indonesien.
Wie hoch sind beispielsweise die Schulden von Indonesien?
Die öffentlichen Schulden von Indonesien belaufen sich gemäss Zahlen der Schweizer Nationalbank auf 210 Millionen Franken. Das klingt vielleicht nicht nach viel. Aber für die betroffenen Länder ist das nicht wenig. Die Gesamtsumme von 5,7 Milliarden Franken machen einen Viertel der gesamten Ausgaben für das Gesundheitswesen aller 70 ärmsten Länder zusammengerechnet aus.
Meinen Sie die Forderung hat eine Chance?
Absolut. Die Forderung, 5,7 Milliarden Franken Schulden zu erlassen, ist nicht besonders radikal. Für die Schweizer Banken handelt es sich nicht um eine grosse Summe. Wir müssen uns daran erinnern, dass die UBS letztes Jahr Frankreich eine Busse wegen Beteiligung an Steuerhinterziehung in der Höhe von 4,5 Milliarden Franken bezahlte. Bedenkt man, dass die gemeinsame Bilanzsumme der Credit Suisse und der UBS sich jährlich auf 1’500 Milliarden beläuft, sind 5,7 Milliarden Franken wohl verkraftbar. Zudem ist zu betonen: Der Schuldenerlass betrifft 40 Schweizer Banken zusammen.
Was sind die nächsten Schritte?
Unsere Grundforderung an den Bundesrat ist, einen runden Tisch mit den involvierten Banken, den verschuldeten Regierungen und deren Zivilgesellschaft zu organisieren. Gemeinsam sollen diese Akteure Modalitäten festlegen für eine totale Schuldenstreichung. Die Zivilgesellschaft etwa soll mitdiskutieren, für welche Bereiche die frei gewordenen Gelder in ihren Ländern genutzt werden. Dabei ist es entscheidend, Mechanismen der Entschuldung zu finden, die garantieren, dass die erlassenen Gelder dann in den Schuldnerländern auch wirklich bei jenen Menschen ankommen, die auf staatliche Unterstützung am meisten angewiesen sind. Jetzt liegt der Ball aber erst einmal beim Bundesrat und bei den Banken, die ihre Bereitschaft zu einer Beteiligung an einem runden Tisch signalisieren müssen.
Haben Sie bereits Rückmeldungen erhalten?
Die Bankiervereinigung lässt verlauten, dass sie bereit wäre, sich an den runden Tisch zu setzen, falls der Bundesrat denn einen solchen anstossen würde. Ich glaube, die Chancen für ein Treffen aller Akteure sind intakt. Die Schweiz war bereits in den 1990er Jahren Wegbereiterin der ersten globalen Schuldeninitiative. Deshalb wäre es ein wichtiges Zeichen, wenn unsere Regierung erneut den ersten Schritt machen würde. Zudem fordern ja nicht nur wir elf Nichtregierungsorganisationen einen Schuldenerlass. Zivilgesellschaftliche Organisationen auf der ganzen Welt, wie auch Regierungen im globalen Süden fordern seit Jahrzehnten einen Schuldenerlass für die ärmsten Länder – und sogar die Vereinten Nationen fordern nun einen solchen. Corona hat zu einer Situation geführt, die die globale Ungerechtigkeit deutlich aufzeigt. Das Thema Schuldenerlass ist derzeit überall präsent, auch in unseren Nachbarländern.
Zudem fordern Sie von den involvierten Schweizer Banken Transparenz.
Die Information über Kredite, deren Konditionen und Rückzahlungsmodalitäten sind Daten von öffentlichem Interesse. Deshalb finden wir, die Banken müssen diese offen legen. Schliesslich sind die Direktion für Entwicklungs- und Zusammenarbeit Deza und auch das Staatsekretariat für Wirtschaft Seco in vielen dieser verschuldeten Länder aktiv. Transparenz würde aber auch Organisationen wie unserer ermöglichen, mit unseren Partnerorganisationen in den Ländern eine aktivere Rolle zu spielen. Wir könnten uns dann gemeinsam dafür einsetzen, dass die Regierungen das Geld auch dahin zahlen, wo es am nötigsten gebraucht wird.
Nicola Mohler, reformiert.info
«Jetzt liegt der Ball beim Bundesrat»